Wie Weber die EVP auf einen aggressiveren Kurs einschwört

Da die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 immer näher rücken, hat EVP-Chef Weber bei den EU-Gesetzesvorlagen eine kämpferischere Haltung eingenommen, um sich Wahlgewinne zu sichern und die Agenda des nächsten Mandats zu gestalten. [Alexandros Michailidis/Shutterstock]

Die größte Fraktion im Europäischen Parlament, die Europäische Volkspartei (EVP), hat in letzter Zeit eine aggressivere Haltung gegenüber wichtigen Gesetzesvorschlägen eingenommen. Dies hat nicht nur für Unruhe unter den Parlamentariern gesorgt, sondern auch das Gleichgewicht der EU-Gesetzgebungsmaschinerie gefährdet.

Die EVP steht traditionell im Zentrum der europäischen Politik und hat auf EU-Ebene das Modell der Großen Koalition in Deutschland übernommen. Hier haben die etablierten Parteien von Mitte-Rechts und Mitte-Links ihre Kräfte gebündelt, um extremistische Parteien aus der Regierung herauszuhalten.

Doch nach fast 25 Jahren als Leuchtturm der Stabilität, wandelt die neue Strategie der EVP-Führung die Fraktion zu einem großen Unsicherheitsfaktor für die EU-Politik.

Die neue Strategie besteht vor allem darin, an mehreren Fronten anzugreifen und sich gegen die Einwanderungspolitik, eine generelle Überregulierung und das ressortübergreifende Gesetzesvorhaben, den Green Deal der EU, zu stellen. Der Haupttreiber dieser Strategie ist Manfred Weber, der Präsident der EVP, dem nach den letzten Europawahlen 2019 der Posten des Kommissionspräsidenten verwehrt wurde.

Weber gehört der CSU an, die zusammen mit ihrer CDU-Schwesterpartei die einflussreichste Delegation innerhalb der EVP-Fraktion bildet.

Die deutschen Mitte-Rechts-Parteien befinden sich nach dem Abgang ihrer langjährigen Kanzlerin Angela Merkel in einer Identitätskrise.

Da die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 immer näher rücken, hat Weber bei vielen der wichtigsten EU-Gesetzesvorlagen eine kämpferischere Haltung eingenommen.

Die Ergebnisse sind auf der ganzen Linie sichtbar.

Vom EU-Lieferkettengesetz bis hin zum Renaturierungsgesetz und dem Gesetz über künstliche Intelligenz sabotieren Abgeordnete der Mitte-Rechts-Bewegung aktiv Texte, die sie auf Ausschussebene unterstützt haben. Damit soll die Unterstützung von Wirtschaftsführern und Landwirten gewonnen werden.

Machtübernahme der Führung

Bemerkenswerterweise sind die ersten Opfer von Webers Konfrontationsstrategie die eigenen EVP-Abgeordneten, Schattenberichterstatter und Meinungsbildner. Diese haben monatelang ihre Zeit und ihr politisches Kapital in die Gestaltung verschiedener Dossiers im Interesse ihrer Fraktion investiert, nur um dann bei der Abstimmung im Plenum vor den Kopf gestoßen zu werden.

In mehreren Fällen haben die EVP-Koordinatoren der parlamentarischen Ausschüsse, die in der internen Struktur der Fraktion eine führende Rolle spielen, die Schattenberichterstatter bei der Festlegung der Abstimmungslinien überstimmt. Außerdem haben sie die Schattenberichterstatter bei der Erstellung der Abstimmungslisten, die festlegen, über welche Teile des Textes getrennt und in welcher Weise abgestimmt wird, übergangen.

Eine EVP-Quelle erklärte gegenüber EURACTIV, viele seien besorgt, dass die künftige Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen wegen geringer Zugewinne bei den Wahlergebnissen dauerhaft gefährdet sein könnte.

Die Unzufriedenheit innerhalb der EVP wächst und wird sich weiter verstärken, je näher das Ende der Legislaturperiode rückt. Dennoch haben sich die Abgeordneten bisher an die Parteilinie gehalten, aus Angst, von neuen Wahllisten gestrichen zu werden.

Weber ist sowohl Vorsitzender der Fraktion als auch der gesamten europäischen Partei. Gleich nach seinem Amtsantritt leitete Weber eine Reihe tiefgreifender Veränderungen innerhalb der politischen Familie ein, indem er sie in eine permanente Wahlkampagne verwandelte und sie von der Mitte nach rechts zog.

Das Abstimmungsverhalten änderte sich entsprechend, wobei sich die EVP zunehmend mit rechten Abgeordneten verbündete, was das politische Gleichgewicht innerhalb des Europäischen Parlaments veränderte. Die EU-Politik steht nicht mehr im Vordergrund.

Kommunikation über Inhalt

Als die EVP Anfang Mai in München tagte, wurde den Delegierten von oben eine äußerst kritische Resolution zu den entscheidenden grünen Dossiers der Kommission von Ursula von der Leyen aufgezwungen, so eine zweite EVP-Quelle gegenüber EURACTIV.

Einem dritten EVP-Vertreter zufolge besteht Webers Strategie darin, sich von von der Leyen, die selbst aus den Reihen der CDU kommt, abzugrenzen und die traditionelle konservative Wählerbasis, wie beispielsweise die Landwirte, zurückzugewinnen.

Die Neupositionierung der größten europäischen Fraktion in eine Oppositionspartei fordert jedoch bereits ihren Tribut in der EU-Politik. Die anderen Parteien machen aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl. Sie kämpfen darum, wichtige Gesetze noch vor dem Ende der Legislaturperiode zu verabschieden.

„Sie sind in einer Art und Weise im Wahlkampfmodus, die in gewisser Weise nicht seriös ist, da sie anscheinend Fakten ignorieren und sich auf Propaganda konzentrieren“, sagte Brando Benifei, Leiter der italienischen Delegation der Fraktion der Sozialisten und Demokraten (S&D), der zweitgrößten Fraktion im Parlament.

Benifei, Mitberichterstatter für das AI-Gesetz, verwies auf die Tatsache, dass die EVP trotz Zusagen, dies nicht zu tun, Fraktionsänderungsanträge zur biometrischen Fernidentifizierung eingereicht hat. Noch bedeutsamer für die EU-Politik dürfte jedoch der immer vehementere Widerstand der Fraktion gegen den Green Deal sein.

Der jüngste Versuch, das Naturwiederherstellungsgesetz zu Fall zu bringen, ist symptomatisch für das wachsende Unbehagen der EVP an der grünen Agenda der Kommission. Das Gesetz, das in der vergangenen Woche nur knapp eine Abstimmung im Ausschuss überlebt hat, um in die weitere parlamentarische Prüfung zu gehen, war der zentrale Punkt der wachsenden Spannungen.

Der liberale Europaabgeordnete Pascal Canfin von der Renew Fraktion, der auch Vorsitzender des einflussreichen Umweltausschusses ist, sagte am 13. Juni vor Journalisten, er habe aus „direkten und verschiedenen Quellen“ erfahren, dass Weber potenzielle abtrünnige Abgeordnete gewarnt habe, dass sie, „wenn sie beim nächsten Mal ihren Platz auf der Liste haben wollen, sicherstellen sollten, dass sie nicht [bei einer relevanten Ausschussabstimmung] auftauchen.“

Weber seinerseits wies die Anschuldigungen als Zeichen wachsender Nervosität bei Renew zurück.

Sollte das Renaturierungsdossier im Juli im Plenum scheitern, wäre dies das erste Scheitern des Green Deal, mit weitreichenden Folgewirkungen.

Das eigentliche Ziel

Während die Mitte-Rechts-Abgeordneten offen Frans Timmermans, den sozialdemokratischen Green-Deal-Chef, ins Visier genommen haben, ist die eigentliche Zielscheibe die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie übernahm im Jahr 2019 den Posten, der nach dem Spitzenkandidatenprinizip eigentlich an Weber hätte gehen müssen.

Einer vierten EVP-Quelle zufolge war der plötzliche Kurswechsel der Fraktion in der EU-Politik Teil von Webers „persönlicher politischer Agenda“, um von der Leyens Wiederwahl zu torpedieren und gleichzeitig Brücken zu den Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) zu schlagen. Diese wird bei den nächsten Wahlen voraussichtlich deutlich an zusätzlichen Sitze gewinnen.

Ein erster Test, um das Zentrum der europäischen Politik weiter nach rechts zu verschieben, könnten die spanischen Wahlen im Juli sein, bei denen die Partido Popular (EVP) eine Regierungskoalition mit der EKR-Partei Vox bilden könnte. Dabei hat Weber aktiv Wahlkampf betrieben, indem er die Kommission und die amtierende sozialistisch geführte spanische Regierung kritisierte.

Es könnte jedoch leichter gesagt als getan sein, eine rechtsgerichtete Mehrheit auf EU-Ebene zu heben. Denn es ist alles andere als sicher, dass der französische Präsident Emmanuel Macron, der die liberale Renew-Fraktion fest im Griff hat, dieses Vorhaben jemals unterstützen würde.

„Webers Strategie ist es, nicht jetzt Kommissionspräsident zu werden, sondern erst nach den Wahlen 2029. Er ist bereit, die Kommissionspräsidentschaft dieses Mal den Sozialisten zu opfern und dann eine erbitterte Opposition zu starten“, fügte die vierte Quelle hinzu.

In der Zwischenzeit wird es immer schwieriger, die EVP zusammenzuhalten. Den liberaleren Vertretern gefällt Webers konservativer Kurs nicht und sie könnten in Versuchung geraten, die Fraktion zu verlassen, um sich Renew anzuschließen, so Gerüchte im Parlament.

Nach Ansicht von Insidern könnte der Erfolg dieser Operation für Weber einfach eine Frage des politischen Überlebens sein, koste es, was es wolle.

Das Büro von Manfred Weber hat bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht auf die Anfrage von EURACTIV nach einem Kommentar geantwortet.

*Sarantis Michalopoulos, Natasha Foote, Eleonora Vasques und Max Griera haben zur Berichterstattung beigetragen.

[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic/Benjamin Fox/Kjeld Neubert]

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