Die ungarische Fidesz-Partei verlässt die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament, wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am heutigen Mittwoch bestätigte. Dem Austritt waren jahrelange Meinungsverschiedenheiten mit der konservativen Fraktion vorausgegangen.
Die EVP selbst hatte sich jüngst offenbar darauf vorbereitet, bald über den Rauswurf von Fidesz abzustimmen. Mit dem freiwilligen Austritt kommt die ungarische Partei diesem Schritt nun zuvor.
Der Status der rechten Truppe innerhalb der EVP als Partei – die Mitgliedschaft liegt seit dem Frühjahr 2019 offiziell auf Eis – bleibt jedoch unklar. Quellen aus der EVP teilten gegenüber EURACTIV.com mit, bisher habe der Fidesz das Parteisekretariat nicht über die mögliche Absicht unterrichtet, auch die Partei zu verlassen.
„Ich informiere Sie hiermit, dass die Fidesz-Abgeordneten ihre Mitgliedschaft in der EVP-Fraktion aufgeben,“ schrieb Orbán lediglich an den EVP-Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber.
Zuvor hatten die EVP-Abgeordneten neue Regeln angenommen, die den Weg für den Fraktionsausschluss von Orbáns Partei geebnet hätten. Die Änderungsanträge wurden am Mittwochmorgen mit deutlicher Mehrheit angenommen, während französische, italienische, slowenische, ungarische und kroatische MEPs dagegen stimmten, wie aus EVP-Quellen verlautete.
Laut Orbán seien diese „Änderungen der Regeln der EVP-Fraktion eindeutig ein feindseliger Schritt gegen Fidesz und unsere Wähler.“ Er fügte hinzu: „Unsere Abgeordneten werden weiterhin für diejenigen sprechen, die sie vertreten – nämlich unsere Wähler – und die Interessen des ungarischen Volkes verteidigen.“
Partei-, aber nicht Fraktionsmitglied?
Sollte Fidesz in der EVP bleiben, würde dies zu einer noch nie dagewesenen Situation führen, in der eine nationale Partei, die Mitglied der EVP ist, nicht gleichzeitig auch Teil der Fraktion im Europäischen Parlament wäre.
Laut EVP-Quellen wäre es aus Sicht vieler Fidesz-Abgeordneter allerdings denkbar, sich nun der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) anzuschließen, einer euroskeptischen Partei mit aktuell 61 Abgeordneten im EU-Parlament. Selbst dann könnte die Fidesz aber zumindest theoretisch in der Europäischen Volkspartei bleiben.
Sofern sich die ungarische Partei nicht selbst zum Austritt entschließen sollte, könnte sich ein mögliches Ausschlussverfahren aus der EVP derweil recht kompliziert gestalten. Die Verfahren sehen ein persönliches Parteitreffen und eine formelle Abstimmung über einen Ausschluss vor. Dies dürfte sich während der Pandemie als schwierig erweisen.
Konservative und Rechtsradikale stehen bereit
Bislang ist also unklar, welcher EU-Parlamentsfraktion sich die zwölf Fidesz-Abgeordneten anschließen werden. Je nach Entscheidung könnte sich die derzeitige Machtbalance im EU-Parlament verschieben. Gegebenenfalls könnte die Fidesz auch fraktionslos bleiben.
Gerüchte in Brüssel legen nahe, dass Orbán bereits mit den erzkonservativen EKR flirtet. In einem von EURACTIV eingesehenen Brief, den Orbán vergangene Woche an Italiens nationalistische Partei (und EKR-Mitglied) Fratelli d’Italia schickte, hatte der Fidesz-Chef um eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien gebeten.
Dieser Brief wird nun als ein weiteres Indiz dafür gewertet, dass Fidesz möglicherweise einen Beitritt zur EKR-Fraktion anstrebt. Dies wird noch wahrscheinlicher angesichts der Tatsache, das die EKR auch die politische Heimat von Orbáns engem Verbündeten, der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), sind.
Im Brief an die italienischen EKR-Mitglieder schrieb Orbán: „Wir brauchen verlässliche Kampfgefährten, die eine gemeinsame Vision für die Welt haben und ähnliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit geben. Ich hoffe, dass die Zusammenarbeit zwischen Fidesz und den Fratelli d’Italia auch in Zukunft fortgesetzt wird und dass wir unsere freundschaftlichen Beziehungen, die auf der Politik eines gesunden Menschenverstandes, auf christlichen und konservativen Werten basieren, aufrechterhalten können.“
Noch weiter rechts macht man sich derweil ebenfalls Hoffnungen: Der AfD-Vertreter Jörg Meuthen kann sich einen Fidesz-Beitritt zu seiner rechtsradikalen Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) jedenfalls sehr gut vorstellen: „Auf Seiten der AfD, und sicherlich auch seitens der anderen ID-Delegationen, würde sich keiner einem Beitritt des Fidesz zur ID versperren.“
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]