Es gibt jetzt einen weiteren zentristisch-liberalen Regierungsführer in einem EU-Staat: Fianna Fáil-Chef Mícheál Martin übernimmt das Amt des Premierministers Irlands – und hat vor allem die Aufgabe, die wirtschaftliche Erholung des Landes nach der Pandemie zu leiten.
Der erfahrene 59-jährige Politiker soll eine Koalition aus seiner liberalen Partei, der konservativen Fine Gael und den Grünen führen. Ein entsprechender Durchbruch war am Samstag erzielt worden. Zuvor hatte es nach den knappen Wahlen im Februar monatelange (festgefahrene) Verhandlungen gegeben.
Mit der nun erreichten Einigung wird die Wahlsiegerin Sinn Féin bei der Regierungsbildung übergangen. Die linke Partei hatte in den Februar-Wahlen deutlich stärker abgeschnitten als zuvor erwartet worden war.
Fianna Fáil und Fine Gael hatten sich jedoch beide von der Sinn Féin aufgrund derer historischen Nähe zur Irish Republican Army (IRA) distanziert.
„Unsere drei Parteien kommen aus sehr unterschiedlichen Traditionen,“ räumte Martin im Rahmen seiner Dankesrede am Samstag ein. „Man kann und wird von uns nicht erwarten, dass wir uns über alles einig sind. Wir haben uns jedoch auf demokratische Grundprinzipien und auf ein ausgewogenes und umfassendes Programm einigen können.“
Er fügte hinzu, die Arbeit an der wirtschaftlichen Erholung Irlands nach der Coronavirus-Pandemie werde „im Mittelpunkt all dessen stehen, was die neue Regierung tut“.
Weitere drängende Fragen sind die Verkürzung der Wartezeiten bei Arztterminen, die Erhöhung der Sozialhilfe und die Bewältigung der Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt. „Erholung und Erneuerung. Dies sind die Themen, die hinter allem in diesem Regierungsprogramm stehen, das zwischen Fianna Fáil, Fine Gael und der Grünen Partei vereinbart wurde,“ sagte Martin.
Erfahrener Politiker
Der neue irische Premier bringt viel Erfahrung mit: Zuvor war er bereits Minister in verschiedenen Ressorts wie Gesundheit, Bildung, Handel und auswärtige Angelegenheiten gewesen.
Seine erste Amtszeit in der Regierung absolviert er schon 1997 im ersten Kabinett von Bertie Ahern, in dem er mit 36 Jahren das jüngste Mitglied war. In seiner Funktion als Bildungsminister schlug er damals höhere Ausgaben und eine Reihe neuer Bildungsinitiativen auf verschiedenen Ebenen vor.
Zuvor war Martin als Stadtrat von Cork tätig und 1992 auch Oberbürgermeister der Stadt.
Leo Varadkar, der scheidende konservative Taoiseach – so der irische Titel des Premierministers – wird künftig Martins Stellvertreter. Außerdem leitet er das Ministerium für Unternehmen, Handel und Beschäftigung.
Varadkar gab am Wochenende zu, die Neubildung der Regierung und die nun herrschende Situation in der Führung des Landes sei für seine Partei Fine Gael „nicht unbedingt ein Tag zum Feiern“.
Seine Konservativen wollten aber „das tun, was für das Land richtig ist“.
Reaktionen aus Brüssel
In Brüssel zeigte sich Dacian Cioloş, der Vorsitzende von Renew Europe (der Fraktion, der Fianna Fáil auf EU-Parlamentsebene angehört), zufrieden mit Martins Ernennung zum Premierminister. Cioloş mahnte, dass „herausfordernde Zeiten vor uns liegen“. Martin könne aber immer auf die Unterstützung seiner „europäischen politischen Familie“ zählen.
Auch Guy Verhofstadt, wohl einer der prominentesten Europaabgeordneten von Renew Europe, lobte die Regierungsbildung und erklärte, er sei zuversichtlich, dass Martin „ein starkes Irland im Herzen eines vereinten Europas zementieren“ werde.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]