Stéphane Séjourné, einer der engsten Vertrauten von Präsident Emmanuel Macron, wurde als französischer EU-Kommissar nominiert. Inmitten der politischen Instabilität im eigenen Land ist dies ein Zeichen, dass der französische Präsident die Kontrolle über die EU-Angelegenheiten behält.
„Der Präsident der Republik hat im Einvernehmen mit dem Premierminister Herrn Stéphane Séjourné, Minister für Europa und Auswärtige Angelegenheiten, als EU-Kommissar für die nächste Amtszeit vorgeschlagen“, heißt es in einer Pressemitteilung des Élysée am Montag (16. September).
Séjourné war früher Vorsitzender der liberalen Fraktion Renew Europe im Europäischen Parlament, in der auch Macrons Verbündete sitzen.
Séjournés Name wurde nur wenige Stunden nach der plötzlichen Ankündigung von Thierry Breton bekannt gegeben, dass er wegen eines Streits mit der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen von seinem Kommissarsposten zurücktreten werde.
Euractiv hat erfahren, dass den ganzen Sommer über Verhandlungen zwischen Emmanuel Macron und von der Leyen stattgefunden haben, um sich über die Konturen eines Portfolios und den Posten eines Exekutiv-Vizepräsidenten zu einigen.
Im Laufe der Verhandlungen wurde klar, dass Breton nicht mehr der Mann der Wahl sein konnte, nachdem er von der Leyen bei mehreren Gelegenheiten öffentlich kritisiert hatte.
„Sie haben Frankreich gebeten, meinen Namen zurückzuziehen – aus persönlichen Gründen, die Sie in keinem Fall direkt mit mir besprochen haben – und haben als politischen Ausgleich ein angeblich einflussreicheres Ressort für Frankreich im künftigen Kollegium angeboten“, erklärte Breton in seinem Rücktrittsschreiben an von der Leyen, das auf X veröffentlicht wurde.
Séjourné, so das französische Präsidialamt, „erfüllt alle erforderlichen Kriterien“, und „sein Engagement für Europa wird es ihm ermöglichen, diese Souveränitätsagenda voll zu unterstützen“.
Höhere französische Position
Die Ernennung von Séjourné unterstreicht die Bereitschaft Macrons, seinen Einfluss auf die EU-Kommission und deren Kommissare zu verstärken.
Séjourné war bereits 2016 in Macrons Wahlkampfteam eingetreten und soll ihm besonders nahestehen. Der 39-Jährige ist ebenfalls Generalsekretär von Macrons Partei Renaissance.
In vielerlei Hinsicht wird er von vielen als der perfekte Mann angesehen, um Macrons Forderungen und Reformen zu verteidigen. Er soll auf der Vision für Europa aufbauen, die der Präsident in seiner Rede an der Sorbonne im vergangenen April skizziert hat – und den Einfluss der Liberalen in den oberen Rängen der Kommission stärken.
Der Schritt ist auch ein klares Signal, dass die EU-Angelegenheiten weiterhin in Emmanuel Macrons Zuständigkeitsbereich liegen – trotz der labilen politischen Lage im eigenen Land und keiner funktionsfähigen Regierung seit über 70 Tagen.
Als ehemaliger Leiter der liberalen Renaissance-Delegation im Europaparlament und Vorsitzender der Gruppe „Renew Europe“ ist Séjourné auch in Brüssel kein Unbekannter.
In seiner neunmonatigen Amtszeit als Außenminister legte er großen Wert auf die Stärkung der Beziehungen zu den wichtigsten europäischen Partnern, nicht zuletzt mit den Partnern des Weimarer Dreiecks Deutschland und Polen.
Paris hofft auf ein breit gefächertes Ressort, das – ähnlich wie bei Breton – den Binnenmarkt und die Industrie umfasst, aber auch einen Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung, Währungspolitik, Wirtschaft, Finanzdienstleistungen und die Kapitalmarktunion legt.
Dies würde jedoch nicht die direkte Aufsicht über die Verteidigungsindustriepolitik beinhalten, die wahrscheinlich in den Händen eines separaten Kommissars liegen würde.
Fragen zur Erfahrung
Die Ernennung von Séjourné ist jedoch nicht jedermanns Sache, und es mehren sich die Vorwürfe, dass es ihm an Fachwissen und politischem Gewicht fehlt, um ein so umfangreiches Ressort zu übernehmen.
Im Vergleich zu Breton, dem ehemaligen CEO des Technologieriesen Atos und Wirtschafts- und Finanzminister, habe Séjourné „nicht die nötige Geschäftserfahrung“, um sich bei wichtigen Themen durchzusetzen und sich beispielsweise mit Elon Musk, dem CEO von X, anzulegen, erklärte CDU-Politiker Andreas Schwab, Berichterstatter der EVP für das Gesetz über digitale Märkte (DMA), gegenüber Journalisten.
Séjourné spreche zudem ein eher bescheidenes Englisch.
„Bretons Abgang ist ein Skandal“, sagte ein Renew-Abgeordneter, dem Anonymität gewährt wurde, gegenüber Euractiv. „Er ist nicht annähernd so gut wie Breton, wenn es um Erfahrung und internationale Ausstrahlung geht“.
Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums wurden Bedenken geäußert.
„Die heute getroffenen Entscheidungen werden [die] EU als industrielle Basis und starken Markt schwächen. Ich war nicht immer einer Meinung mit Thierry Breton, aber er ist ein starker Verfechter der EU-Wirtschaft und ihres Übergangs. Ich sehe nicht, wie diese Lücke gefüllt werden soll“, schrieb Europaabgeordnete der Grünen und Schattenberichterstatter für das KI-Gesetz, Sergey Lagodinsky, auf X.
Die Ernennung von Séjourné ignoriert erneut die Aufforderung von der Leyens an alle Mitgliedsstaaten, sowohl einen weiblichen als auch einen männlichen Kandidaten zu benennen.
Macrons Entscheidung, einen Mann zu nominieren, sei „eine verpasste Gelegenheit, sein Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter zu zeigen“, sagte die EU-Ageordnete der niederländischen Grünen, Kim van Sparrentak, gegenüber Euractiv.
[Bearbeitet von Aurélie Pugnet/Owen Morgan/Kjeld Neubert]