Die Demonstrationen in Sofia gegen den bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow werden nach 113 Tagen wegen der sich verschlechternden Pandemie-Situation eingestellt. Das teilten drei Personen, die als Anführer der Proteste gelten, am Montag mit.
Tausende bulgarische Bürgerinnen und Bürger waren insgesamt 113 Tage lang immer wieder auf die Straßen gegangen, um den Rücktritt Borissows und des Generalstaatsanwalts Iwan Geschew aufgrund angeblicher Korruption zu fordern.
Die beiden hätten die staatlichen Institutionen geschwächt und mächtige Oligarchen im Land begünstigt, so die Vorwürfe.
In einer Erklärung teilte das parteilose Organisations-Trio der Proteste nun mit: „Wir müssen die Handlungsfähigkeit der bulgarischen Ärztinnen und Ärzte sowie des Pflegepersonals im Umgang mit dieser ‚Patientenwelle‘ erhalten. Wir haben diese Entscheidung aus Respekt vor unserer Ärzteschaft und den Sanitätsdiensten getroffen.“
Wenngleich geringer als in Westeuropa, steigt die Zahl der Neuinfektionen auch in Bulgarien praktisch täglich an. Die Gesundheitsdienste des Landes gehörten zu den ersten in Europa, die warnten, dass sie höhere Fallzahlen nicht bewältigen könnten. Eine Ursache für die sich verschärfende Situation dürfte der „Brain-Drain“ sein: Seit dem EU-Beitritt des Landes im Jahr 2007 sind bulgarische Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte verstärkt im Ausland tätig – vor allem aufgrund der niedrigen Gehälter in der Heimat.
Das Organisations-Trio erklärte weiter, die Regierung traue sich nicht, die Proteste zu untersagen. Man habe nun selbst diese Entscheidung getroffen – wohl wissend, dass sie unpopulär sei und Kritik auslösen werde.
Allerdings ist die Beteiligung an den Protesten seit dem Sommer rückläufig. Einige von Medien interviewte Demonstrierende sagten ernüchtert, man sei zum Schluss gekommen, dass Borissow und Geschew auf keinen Fall zurücktreten würden.
In Bulgarien stehen im kommenden März Parlamentswahlen an. Borissow hatte wiederholt erinnert, seine Kritikerinnen und Kritiker hätten dann die Möglichkeit, ihn abzuwählen, wenn sie wollten.
Derweil nutzt der amtierende Premier die noch verbleibende Zeit bis zu den Wahlen, um die Gehälter in der Verwaltung zu erhöhen und den Rentnerinnen und Rentnern einen festen monatlichen „Bonus“ zu zahlen. Die Opposition und die Demonstrierenden auf den Straßen werfen Borissow daher vor, er versuche, die Wählerinnen und Wähler zu bestechen.
Würden heute Wahlen stattfinden, würden Borissows konservative GERB-Partei (EVP auf EU-Ebene) und die oppositionellen Sozialdemokraten sich laut Meinungsumfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Beide könnten jedoch nicht regieren, ohne eine Koalition aus – laut aktuellen Umfragen – mindestens drei Parteien zu bilden.
In Bulgarien gehen indes viele davon aus, dass die Sozialdemokraten nicht Borissows Problem sein dürften: Selbst wenn sie die Wahlen gewinnen und eine Regierung bilden sollten, könne er demnach einen Weg finden, mit ihnen zu koalieren. Borissow selbst hat allerdings angekündigt, er strebe keine Wiederwahl an. Seine neue Aufgabe nach den Wahlen bestehe darin, seine Partei zu stärken.
Sorgen könnte Borissow und der GERB hingegen vor allem der amtierende Präsident des Landes, Rumen Radew, bereiten. Borissows politischer Erzfeind hatte die Demonstrationen offen unterstützt. Dass Radew, ein ehemaliger Militärpilot und Chef der Luftwaffe, im Herbst 2021 als Präsident wiedergewählt wird, gilt aktuell als sehr wahrscheinlich.
Der Präsident in Bulgarien hat begrenzte Rechte, aber Borissow befürchtet offenbar, dass Radew versucht sein könnte, eine eigene politische Partei zu gründen.
Das könnte in der Tat die Situation verändern: Denn es ist unwahrscheinlich, dass eine solche Partei einen Kompromiss mit Borissow eingehen wird.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]