Standpunkt von Kurt Bergmann, Ex-Generalsekretär des ORFIn Wahljahren beäugen die Parteien den Rundfunk kritischer als sonst und nutzen alle Netzwerke. Die in Österrech schon länger laufende Diskussion, die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sichern, ist vor den Nationalratswahlen ins Stocken geraten. Kurt Bergmann, ein alter „Rundfunkprofi“, will sich damit nicht abfinden und plädiert in EURACTIV.de für ein Losverfahren.
Der Autor
Kurt Bergmann ist Journalist, war Generalsekretär des ORF und Abgeordneter zum Nationalrat (ÖVP).
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Europas öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten leiden unter ihrer politischen Abhängigkeit. Seit Gründung glauben Politiker und Parteien, es sei ihr gutes Recht, entsprechenden Einfluss auf die Besetzung der Posten in deren obersten Organen auszuüben. Dabei geht es nicht um Sachverstand und Qualifikation, sondern um Parteizugehörigkeit und Parteinutzen.
Österreich ist hier leider ein sehr negatives Beispiel:
Seit fast 40 Jahren schreibt die österreichische Bundesverfassung dem Parlament vor, zur „Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks“ ein eigenes Gesetz zu schaffen, das „die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung (…) sowie die Unabhängigkeit der Personen und Organe gewährleistet“.
Geschehen ist dies bis heute nicht. Im Gegenteil, es wurden immer wieder Gesetze beschlossen, die die politische, programmliche und wirtschaftliche Abhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Österreichischen Rundfunks (ORF) ausbauten.
Demokratiebefund: Unabhängigkeit nicht gewährleistet
Die derzeitige Situation: Von den 35 Mitgliedern des obersten Kontrollorgans des ORF gelten nur vier als parteiunabhängig. 27 gehören den Fraktionen der beiden Regierungsparteien (SPÖ 15, ÖVP 12) an, zwei der FPÖ, je einer den Grünen bzw. dem „Bund Zukunft Österreich“ (BZÖ).
24 der Mitglieder werden von Regierungen und Parteien „ernannt“ (neun von der Bundesregierung, neun von den Landesregierungen und sechs von den Parlamentsparteien), fünf vom Betriebsrat, sechs vom sogenannten Publikumsrat, der ebenfalls eine Spielwiese der Parteisekretariate ist.
Der alljährliche „Demokratiebefund“ der „Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform“ stellt für 2012 trocken fest, dass „die in der Verfassung verbriefte Unabhängigkeit des ORF… nicht gewährleistet“ ist.
Begründung: Stiftungsräte holen sich in Parteigremien Weisungen; Parteisekretariate machen Druck bei Personalentscheidungen; Wahlergebnisse (im Bund oder im Land) verändern die Zusammensetzung des Stiftungsrates; keine geheime Wahl bei Personalentscheidungen; Anhörungsrechte werden als Mitbestimmung missverstanden.
75 Prozent glauben, der ORF gehöre den Parteien
Laut einer im Vorjahr veröffentlichten repräsentativen Studio äußerten daher auch 75 Prozent der Österreicher die Meinung, der ORF gehöre den Regierungsparteien (61% SPÖ, 16% ÖVP).
Bei der Bewältigung des Verfassungsauftrages, die Rahmenbedingungen für einen parteipolitisch unabhängigen Rundfunk festzulegen, haben es die Parteien nicht leicht. Müssten sie doch gegen ihre vermeintlichen Interessen verstoßen.
Um das zu umgehen, hat jetzt der österreichische Fernseh-Anchorman, Armin Wolf, ein Lösungsmodell des deutschen Politologen Hubertus Buchstein ins Gespräch gebracht, wonach das Nominierungsecht für die Bestellung der Mitglieder des Stiftungsrates an eine durch „Losentscheid“ zusammengestellte Gruppe Bürgern übertragen werden sollte.
Ein solches Modell würde Politikern und Parteien aus ihrem Entscheidungsdilemma und die Anstalten vom Ruf der politischen Abhängigkeit befreien. Und das nicht nur in Österreich, sondern in der gesamten EU.
So könnte der neue Stiftungsrat aussehen
Die Verkleinerung des Stiftungsrates von 35 auf 15 Personen ist politisch weitgehend außer Streit. 5 davon soll der Betriebsrat stellen (Aktiengesetz). Die restlichen 10 sind das Politikum. Wer sucht aus? Wer bestellt?
Der neue Vorschlag „Losentscheid“ könnte, auf Österreich projiziert, folgendes Modell ergeben:
· 150 bis 200 aus dem Wählerverzeichnis ausgeloste Personen erarbeiten für das Parlament einen Vorschlag für eine neue Struktur des ORF-Stiftungsrates und entwickeln präzise Anforderungsprofile für deren Mitglieder.
· Die 10 Positionen des Stiftungsrates werden von der „Loskammer“ öffentlich ausgeschrieben.
· Diese kann jederzeit Experten zur Beratung heranziehen und muss mit den Bewerbern ausführliche Hearings durchführen.
· Die Entscheidungen sind öffentlich zu begründen.
· Ernennung und Angelobung durch den Bundespräsidenten, der im Einzelfall (wie bei der Angelobung von Regierungsmitgliedern) von einem Vetorecht Gebrauch machen kann.
Danach wird die „Loskammer“ aufgelöst. Die Amtszeit des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Die Mitglieder sind nicht absetzbar. Bei Ausscheiden eines Mitgliedes erneuert sich das Gremium selbst. Nach 5 Jahren wird der Prozess neu gestartet.
„Loskammer“ ein durchaus bewährtes Modell
Bei Verwirklichung eines derartigen Modells würde der Entscheidungsprozess zur Besetzung des höchsten Gremiums des ORF an Menschen ausgelagert, die eines gemeinsam haben: Sie sind nicht von Parteien entsandt und können von Parteisekretariaten nicht gegängelt werden.
Die Mitglieder einer solchen „Loskammer“ sehen mit Sicherheit mehr fern und hören mehr Radio als jene Politiker, die heute in Rundfunkfragen entscheiden. Sie verstehen mehr vom Programm und von den Bedürfnissen der Konsumenten. Ihr Interesse gilt der Attraktivität der Sendungen und der Objektivität der Information. Ihnen geht es um die Qualität der Geschäftsführung und der Programmmacher und nicht um deren Zugehörigkeit zu einer Partei.
„Loskammern“ haben sich in der in der Praxis mehrfach in den USA, in Kanada, in den Niederlanden, in Frankreich, in Irland und sogar in China bewährt. Es ging dabei um die Vorbereitung von Wahlrechtsreformen, um die Festlegung von Politikergehältern, um die Auswahl von Geschworenenrichtern, um Verfassungsreformen etc. „Im Ergebnis können sie als Musterbeispiele für gelingende deliberative (beratende, Anm.) Demokratie bewertet werden“, resümiert Politologe Buchstein von der Universität Greifswald.
Die Umsetzung eines solchen Modells auf die öffentlich-rechtlichen Radio-und Fernsehanstalten in Europa würde dem Verlangen der Menschen nach objektiver Information entsprechen sowie den Ruf von Parteien und Politikern deutlich verbessern. Das würde beiden Seiten nutzen.