Die COVID-19-Krise macht es für benachteiligte oder beeinträchtigte Menschen noch schwieriger, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Zeit für neue Ansätze? Ein Bericht von EURACTIV Frankreich.
„Die Angst im Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise ist eine Bremse. Es wird sicherlich Arbeitgeber geben, die aktuell andere Themen im Sinn haben,“ räumt Didier Eyssartier ein, Generaldirektor von Agefiph, einer französischen Organisation, die sich für die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitsmärkte einsetzt.
Die aktuelle Gesundheitskrise komme zu einer Zeit, da „wir uns eigentlich auf einem Weg des Fortschritts befanden: In den letzten fünf Jahren haben Menschen mit Beeinträchtigungen in 30 Prozent der Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten gearbeitet“, betont er und warnt: „Behinderungen sind ohnehin eine hohe Hürde bei der Integration. Die aktuelle Herausforderung besteht also darin, dieses Problem nicht weiter wachsen zu lassen.“
Dabei dürfte diese Angst nicht ausschließlich bei Menschen mit Behinderungen vorherrschen.
Es gibt keine offizielle Definition dessen, was ein „benachteiligter Mensch“ ist. Oftmals werden darunter Personen mit sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten zusammengefasst: Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen, aber auch Analphabeten, Personen ohne Schulabschlüsse, unterhalb der Armutsgrenze lebende Menschen, alleinstehende Frauen und alleinerziehende Mütter, Langzeitarbeitslose…
Es handelt sich also um eine sehr heterogene Gruppe, deren Mitglieder dennoch eines gemeinsam haben: Sie sind stärker als der Rest der arbeitenden Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt, sich am Rande des Arbeitsmarktes wiederzufinden. Soziale Ausgrenzung zu erfahren, ist in ihren Situationen sehr viel wahrscheinlicher.
„Die Schwächsten sind der Wirtschaftskrise am stärksten ausgesetzt,“ erklärt auch die Europaabgeordnete Sylvie Brunet von der liberalen Renew Europe. Sie ist Mitglied des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) des Europäischen Parlaments.
Die größte Herausforderung bestehe darin, dafür zu sorgen, dass diese Menschen „einen würdigen, stabilen und nachhaltigen Arbeitsplatz finden oder wiedergewinnen“, fordert auch der grüne Europaabgeordnete und Mitglied des EMPL-Ausschusses Mounir Satouri. Man müsse sie aus prekären Arbeitsverhältnissen, befristeten Verträgen und Zeitarbeitsverträgen herausholen – Arbeitssituationen, in denen sie deutlich überrepräsentiert sind.
Brunet, Eyssartier und Satouri sprachen am 28. Oktober auf einer von EURACTIV.fr organisierten Online-Konferenz zum Thema Integration und Inklusion benachteiligter Menschen in den Arbeitsmarkt.
Der Schlüssel: Verbesserter Zugang zu Aus- und Weiterbildung
Zwar sind die Reaktionen und angedachten Maßnahmen zur Integration benachteiligter Menschen so vielfältig wie die Profile dieser Menschen selbst, doch eine Konstante zeigt sich immer wieder: Der Bedarf an adäquater Berufsausbildung, an Lehrstellen und an Zugang zu Bildung.
„Es ist absolut notwendig, eine Grundausbildung und [das Erlernen von] Grundfertigkeiten zu garantieren, um die Integration benachteiligter Menschen in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten,“ sagte Brunet dazu. Sie fügte hinzu, die Bekämpfung des Analphabetismus sie ebenfalls von entscheidender Bedeutung – und erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass rund fünf Prozent der französischen Bevölkerung nicht lesen und schreiben können.
Eyssartier wies seinerseits darauf hin, dass Arbeitssuchende mit Behinderungen heute „viel älter sind als die breite Öffentlichkeit: 50 Prozent sind über 50 Jahre alt“. Hinzu komme: „Sie sind deutlich schlechter qualifiziert als die breite Öffentlichkeit.“ Nur 35 Prozent hätten das Abitur, „gegenüber 50 Prozent der Arbeitslosen im Allgemeinen“, fügte er hinzu.
Paradigmenwechsel
Die Verbesserung des Zugangs zu Bildung, Berufsausbildung und Lehrstellen für benachteiligte Menschen kann jedoch nicht das einzige Mittel sein, um ihnen wirksam zu helfen, einen Arbeitsplatz zu finden oder auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren: „Die Gesundheitskrise offenbart bereits länger bestehende Anomalien, Ungleichheiten und strukturelle Probleme auf dem Arbeitsmarkt, sowohl in Europa insgesamt als auch in Frankreich im Speziellen,“ sagte Brunet.
Die liberale EU-Parlamentarierin räumte ein, dass die EU auf dem von einer liberalen Wirtschaftsphilosophie untermauerten Binnenmarktkonzept gegründet sei, was bedeute, dass Brüssel sich „viel weniger um soziale und ökologische Fragen kümmert“. Sie fordere dennoch die Öffnung des Recovery Funds für andere Bereiche, wie beispielsweise die Sozial- und Solidarwirtschaft. Insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit im Allgemeinen müsse wirksamer bekämpft werden.
Dem Grünen Satouri zufolge hat die gegenwärtige Coronavirus-Krise zwei Seiten: „Es gibt eine Gesundheitskrise, aber auch eine Krise unseres Wirtschaftsmodells.“ Das vorherrschende Modell habe Millionen Europäerinnen und Europäer „ins Abseits gedrängt“, so Satouri weiter.
Somit müssten sich alle politischen Ansätze letztendlich auf die Beantwortung einer Frage konzentrieren: „Welche konkreten und wirksamen Maßnahmen ergriffen werden, um eine verstärkte Rückkehr zur Beschäftigung zu ermöglichen.“
Er schloss, im Großen und Ganzen seien „die Verlagerung von Industriearbeitsplätzen innerhalb Europas und die ökologische Wende und Umstellung der Wirtschaft“ das entscheidende Thema beim zukünftigen Wiederaufbau.
[Bearbeitet von Tim Steins]