In nur wenigen Jahrzehnten hat sich Estland von einer ehemaligen Sowjetrepublik zu einer der fortschrittlichsten digitalen Gesellschaften der Welt entwickelt. Der kleine baltische Staat ist ein Vorbild für andere EU-Länder, die die Vorteile der Digitalisierung für sich nutzen wollen.
Obwohl in Estland nur 1,3 Millionen Menschen leben, ist das Land in vielerlei Hinsicht Vorreiter in der Digitalisierung. Das Land startete bereits im Jahr 2000 mehrere ambitionierte digitale Initiativen. So wurde damals etwa bereits der Internetzugang als Menschenrecht rechtlich verankert und die elektronische Identität eingeführt wurde.
„Es fing dort an, wo die Menschen den größten Nutzen spüren, nämlich bei den Steuern“, erklärte Premierministerin Kaja Kallas. „Das hat die Menschen dazu gebracht, die digitale ID anzunehmen, den wir im Jahr 2000 eingeführt haben“, fügte sie hinzu.
Heute werden rund 99% der staatlichen Dienstleistungen online abgewickelt, von der elektronischen Stimmabgabe bei Wahlen bis hin zu Steuerdienstleistungen.
Die Regierung schaffte auch den Weg für ein digitales Ökosystem, das die Entwicklung von Start-ups ermöglicht.
Jüngstes Beispiel hierfür ist das E-Residency-Programm. Dieses erlaubt es sich in Estland „digital“ Niederzulassen und beispielsweise eine Firma zu gründen, selbst wenn der Unternehmer keinen physischen Wohnsitz im Land hat.
Mit über 11.000 Start-Ups hat Estland die höchste Anzahl von Start-ups pro Kopf in der EU – 4,6 Mal so viele wie der europäische Durchschnitt. Sieben dieser Start-Ups gelten als „unicorns“ mit einer Marktbewertung von über 860 Millionen Euro. Drei von ihnen haben diesen Status erst im vergangenen Jahr erreicht.
Ein Vorbild für die Digitalisierung
Aufgrund des Erfolgs des estnischen Digitalisierungsmodells hoffen viele EU-Länder, diesem nachzueifern.
Der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier erwog sogar im April, das „beste digitale Team Estlands“ einzufliegen, um die Digitalisierung in Deutschland voranzutreiben.
Auf Nachfrage von EURACTIV sagte Kallas, dass sie häufig mit ihren europäischen Amtskollegen über die Umsetzung des estnischen Modells im Ausland diskutiere. Sie betonte, dass Estland als Versuchslaboratorium – eine „Beta-Version“ – für größere Länder dienen könne.
Zwar gab Kallas zu bedenken, dass „es sehr viel schwieriger ist, ein großes Schiff zu wenden, während es viel einfacher ist, ein kleines Boot zu drehen“, betonte sie dass der estnische Sonderweg bei der Digitalisierung eine Lernerfahrung für andere EU-Staaten darstellen könnte.
In ähnlicher Weise erklärte der estnische Minister für Informationstechnologie, Andres Sutt, gegenüber EURACTIV, dass es nicht möglich sei, das estnische Modell zu kopieren, aber „dass es möglich ist, von unserer Reise zu lernen“.
Vertrauen als Eckpfeiler
Angesichts des hohen Digitalisierungsgrads in Estland war das baltische Land in den letzten Jahren mehrfach Ziel von Cyberangriffen. Am verheerendsten war der Angriff im Jahr 2007, als es mit Russland verbundenen Hackern gelang, die gesamte digitale Infrastruktur Estlands stillzulegen.
Trotz dieser ständigen Cyberangriffe auf die digitale Infrastruktur Estlands „bleibt das Vertrauen der Bürger:innen in die digitalen staatlichen Dienste konstant bei rund 90 Prozent“, so Siim Kumpas, strategischer Kommunikationsberater im estnischen Regierungsbüro gegenüber EURACTIV.
Estland verfolgt hierbei einen zweiseitigen Ansatz um das Vertrauen seiner Bürger in digitale Dienste zu stärken.
Erstens versucht die Regierung, so viel Transparenz wie möglich zu bieten. „Wir waren schon immer transparent, wenn etwas nicht funktioniert oder etwas schief läuft“, betonte Technologieminister Sutt.
So können die Bürger:innen beispielsweise kontrollieren, ob kommunale oder staatliche Behörden auf ihre online Daten zugreifen.
Estland hat sich für ein Modell entschieden, bei dem zunächst digitale Dienste angeboten werden, die im Gegenzug durch ihre Benutzerfreundlichkeit das Vertrauen stärken. „Hätten wir unsere Bürger:innen im Jahr 2000 gefragt, ob sie digitale Identitäten brauchen, hätten sie wahrscheinlich nein gesagt“, so Premierministerin Kallas.
Indem sie auf mehr öffentliche digitale Dienste drängten, konnten die Bürger:innen deren Mehrwert erkennen und sehen, wie sie ihr Leben vereinfachten.
Digitaler Binnenmarkt
In ähnlicher Weise drängt die estnische Regierung auch auf die Einführung von mehr digitalen Diensten auf EU-Ebene.
„Wenn wir einen funktionierenden europäischen digitalen Binnenmarkt haben wollen, dann brauchen wir mehr Anwendungsfälle“, sagte Minister Sutt gegenüber EURACTIV. „Bislang haben wir nur einen, und das ist das COVID-Zertifikat“, fügte er hinzu.
Aus estnischer Sicht ist die Bereitstellung von mehr digitalen Diensten und die Gewährleistung ihrer EU-weiten Interoperabilität einer der wichtigsten Bereiche, in denen Europa eine globale Führungsrolle übernehmen könnte.
„Als größter Markt der Welt brauchen wir mehr digitale Anwendungsfälle“, sagte Sutt und fügte hinzu, dass es zahlreiche Bereiche gebe, in denen solche Anwendungsfälle den europäischen digitalen Markt verbessern würden – von verschreibungspflichtigen Medikamenten bis hin zu elektronischen Frachtbriefen.
Voraussetzung dafür ist, dass die Daten innerhalb der EU frei, sicher und datenschutzfreundlich ausgetauscht werden können.
„Wenn wir diese Art von grenzüberschreitendem Datenverkehr oder Zugang zu Daten nicht haben, sind wir nur eingeschränkt und fragmentiert“, betonte Sutt.
Die Europäische Kommission hat die Schaffung eines Binnenmarktes für Daten bereits ganz oben auf ihre Agenda gesetzt und zwei Gesetzesvorschläge vorgelegt, um dies zu verwirklichen: den Data Governance Act und den Data Act.
[Bearbeitet von Luca Bertuzzi/ Alice Taylor]