Die EU-Mitgliedstaaten haben Ursula von der Leyen nicht dabei unterstützt, eine ausgewogene Geschlechterverteilung in der EU-Kommission zu erreichen. Nun bleibt ihr nur noch wenig Zeit, um die Faktoren abzuwägen, mit denen ihre neue Besetzung die parlamentarische Kontrolle überstehen würde.
Die europäischen Hauptstädte haben offiziell bis Freitag (30. August) Zeit, ihre Nominierungen der EU-Kommissare einzureichen. Nur drei Staaten – Belgien, Bulgarien und Italien – haben am Mittwoch (28. August) noch keine Nominierungen bekannt gegeben.
Trotz von der Leyens Versprechen, eine geschlechterparitätisches Team zu bilden, haben nur sieben der 27 EU-Mitgliedstaaten eine Kandidatin vorgeschlagen.
Und da das neue Kollegium der Kommissare und die dazugehörigen Ressorts den Fraktionsvorsitzenden des Europäischen Parlaments am 11. September vorgestellt werden sollen, läuft die Zeit für Änderungen ebenfalls ab, erklärten parlamentarische Quellen gegenüber Euractiv.
Verändertes Machtgefüge
Seit dieser Woche führt von der Leyen Einzelgespräche mit den Kandidaten. Damit will sie sicherstellen, dass ihre neue EU-Kommission der parlamentarischen Kontrolle standhält, den Ambitionen der Mitgliedstaaten entspricht und mit ihren eigenen Vorstellungen übereinstimmt.
Aber der Mangel an Frauen, der laut parlamentarischen Quellen besonders die Grünen und die Sozialdemokraten beunruhigt, und die Tatsache, dass die internen Regeln des EU-Parlaments von den Abgeordneten verlangen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu berücksichtigen, könnten ihr zum Verhängnis werden.
Als sie vor fünf Jahren zum ersten Mal in ihr Amt gewählt wurde, folgten die Mitgliedstaaten weitgehend ihrer Forderung nach zwei Kandidaten oder zumindest mehr weiblichen Kandidaten. Diesmal wurde ihre Forderung jedoch weitgehend ignoriert.
Ihre Stärke beruhte damals vor allem auf der Tatsache, dass von der Leyen von den beiden größten Mitgliedstaaten der EU, Deutschland und Frankreich, unterstützt wurde, wie Parteiinsider vermuten.
Dieses Mal verfügt sie nicht über genügend Macht, um Forderungen zu stellen, ohne dass diese beiden Staaten ihr den Rücken stärken.
Ein weiterer Vorbehalt ist nach Angaben von Personen aus dem Umfeld des Prozesses, dass sie wahrscheinlich davon absehen wird, die Mitgliedstaaten aufzufordern, einen weiteren weiblichen Namen vorzuschlagen. Dies könnte das Risiko mit sich bringen, dass einige von ihnen auf politischer Ebene „verbrannt“ werden.
Die Aufgabe wird jedoch nicht nur darin bestehen, die Ressorts auf die Ambitionen der Mitgliedstaaten zuzuschneiden. Von der Leyen wird auch versuchen müssen, die politischen Familien zufriedenzustellen, trotz der sich abzeichnenden Dominanz der von der konservativen EVP ernannten Kommissare in der neuen EU-Kommission.
Damit die neuen EU-Kommissare vereidigt werden können, muss das EU-Parlament seine Zustimmung geben. Es erfolgt eine genaue Prüfung der Abgeordneten über die Kenntnisse der designierten Kommissare zu dem Politikbereich, für den sie zuständig sein werden.
Theoretisch sollen sie im Gegensatz zu den Regierungen, die sie ernennen, „neutral“ sein. Die vergangene Amtszeit hat jedoch gezeigt, dass mehrere Staaten – wie Ungarn, Polen oder Frankreich – in gewissem Maße ein Machtspiel mit ihren Dossiers betrieben haben.
Während sie den Wünschen der größeren EU-Mitgliedstaaten und ihrer Unterstützer entgegenkommt, liegt die Zuteilung der Ressorts im Ermessen von der Leyens.
Es ist davon auszugehen, dass der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi am 5. September an der Konferenz der Präsidenten des EU-Parlaments teilnehmen wird. Dort wird er seinen mit Spannung erwarteten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit vorstellen, der die Struktur des zukünftigen Wirtschaftsressorts der EU-Kommission beeinflussen soll.
Zeitpläne könnten sich ändern
In dem unwahrscheinlichen Fall, dass alle designierten Kommissare das Anhörungsverfahren zweifelsfrei überstehen, könnte die neue EU-Kommission ihr Amt bereits am 1. November antreten.
Sollte jedoch mindestens ein Kandidat abgelehnt werden, würde sich der Termin auf den 1. Dezember verschieben. Im schlimmsten Fall, wenn weitere Bedenken gegen die Kandidaten aufkommen, müsste die neue Kommission bis zum 1. Januar warten.
In den letzten Auswahlverfahren hatte das EU-Parlament zwei bis drei Kommissare abgelehnt. So lehnte es beispielsweise 2019 die ungarischen, französischen und rumänischen Kandidaten ab.
Fragenkatalog der Europaabgeordneten
Die parlamentarischen Anhörungen werden voraussichtlich in der dritten Septemberwoche beginnen und drei Elemente umfassen: die Prüfung der Interessenerklärungen der designierten Kommissare, die Einreichung schriftlicher Fragen und eine gemeinsame Anhörung der für die jeweiligen Ressorts zuständigen Ausschüsse.
Zunächst wird der Rechtsausschuss des EU-Parlaments die persönlichen Erklärungen der designierten Kommissare prüfen sowie die persönlichen Finanzen der Kandidaten auf Anzeichen von Interessenkonflikten untersuchen. Im Jahr 2019 scheiterten Ungarns und Rumäniens erste Wahl an dieser ersten Hürde.
Während die persönlichen Finanzen der Kandidaten geprüft werden, wird jeder Ausschuss, der für das jeweilige Ressort der neuen Kommissare zuständig ist, schriftliche Fragen vorbereiten.
Die Antworten werden den Europaabgeordneten als Leitfaden dienen, wenn die Kandidaten vor dem jeweiligen Ausschuss zu dreistündigen Sitzungen erscheinen. In diesen werden die Abgeordneten die künftigen Kommissare abwechselnd zu ihrer Erfahrung und ihren Kenntnissen über ihr Ressort befragen. Wenn sich die politischen Zuständigkeiten überschneiden, sind mehrere Ausschüsse beteiligt.
Die meisten Fraktionen im EU-Parlament beauftragen Assistenten in ihren jeweiligen Sekretariaten mit der Ausarbeitung von Fragen an die Abgeordneten. Während die einzelnen Abgeordneten letztlich die Fragen stellen, spielen die Fraktionskoordinatoren eine entscheidende Rolle bei der Orchestrierung der Fragen während der Anhörungen.
Nach den oft langwierigen Befragungen treffen sich die Europaabgeordneten erneut, um über die Bestätigung oder Ablehnung eines Kandidaten zu entscheiden. Im Fall einer Ablehnung muss der Staat eine andere Person für den Posten nominieren.
Sobald die Abgeordneten allen 26 designierten Kommissaren, mit Ausnahme von der Leyens, eine Betätigung gegeben haben, wird die neue EU-Kommission dem Plenum zur Abstimmung vorgelegt.
Wie bereits im Juni braucht sie die Hälfte aller Abgeordneten, 361, bevor sie ihre Arbeit aufnehmen kann.
*Sarantis Michalopoulos hat zur Berichterstattung beigetragen
[Bearbeitet von Aurélie Pugnet/Daniel Eck/Kjeld Neubert]