Frankreich sei bereit, den EU-Migrationspakt neu zu verhandeln, kündigte der neue Innenminister an. Auch die legalen Grenzen des Schengener Abkommens möchte man austesten. Damit schließt sich die Grande Nation einer wachsenden Zahl von unzufriedenen EU-Staaten an.
Die EU-Abkommen seien nicht mehr zweckmäßig und würden den „Migrationsstörungen“, die Frankreich und die EU seiner Meinung nach erlebten, nicht mehr gerecht, erklärte der neue Innenminister Bruno Retailleau am Montag (23. September) gegenüber dem französischen Fernsehsender TF1.
„Wir müssen die EU-Gesetzgebung überprüfen, die nicht mehr zeitgemäß ist. Ich denke dabei zuallererst an die Rückführungsrichtlinie. […] Es ist an der Zeit, dass wir die EU-Vorschriften ändern“, sagte der neue Minister.
Retailleaus Rhetorik wird nur wenige Beobachter überraschen. Seine Ernennung zum neuen französischen Migrationschef wird weithin als Versöhnungsangebot an die Rechtspopulisten angesehen. Als Gegenleistung erwartet man sich von Marine Le Pen eine Tolerierung der fragilen Regierung des französischen Premierministers Michel Barnier.
Die neue Besetzung hat keine Zeit verschwendet, um dieser Erwartung gerecht zu werden.
Darüber hinaus reihen sich die Äußerungen von Retailleau in die wachsende Zahl von EU-Staaten ein, die Brüssel in den letzten Wochen wegen seiner Migrationspolitik ins Visier genommen haben.
Die neue niederländische Regierung hat letzte Woche die härteste Asylreform in ihrer modernen politischen Geschichte vorgestellt, während die Ampel-Koalition die EU mit der Ankündigung überraschte, für einen Zeitraum von sechs Monaten wieder Kontrollen an allen Landgrenzen einzuführen.
Unter anderem verfolgen auch Ungarn und Schweden eine repressive Einwanderungspolitik, auch wenn dies einen Verstoß gegen EU-Recht bedeutet.
„Wir können eine Art Allianz mit anderen Mitgliedstaaten bilden, die in der Einwanderungsfrage eine härtere Linie fahren wollen“, erklärte Retailleau. Damit deutete er an, dass diese nationale Unzufriedenheit in Maßnahmen auf europäischer Ebene münden könnte.
Der neue französische Minister schlug im Grunde eine Überprüfung des Asyl- und Migrationspakts vor. Dabei handelt es sich um eine Reihe von EU-weiten Rechtsakten, die im Mai nach jahrelangen schwierigen interinstitutionellen Verhandlungen verabschiedet wurden.
Der Pakt, den die europäischen Hauptstädte nun in den nächsten zwei Jahren umsetzen müssen, soll die Reaktion der EU auf irreguläre Migration stärken und die Verantwortung für die Kontrolle der EU-Außengrenzen durch einen neuen „Solidaritätsmechanismus“ besser auf die Erstaufnahmeländer verteilen. Zudem sollen „Vorabprüfungen“ durchgeführt werden, bevor irreguläre Migranten die EU betreten.
NGOs haben ihre große Besorgnis über den Pakt in seiner jetzigen Form zum Ausdruck gebracht. Für einige auf der rechten Seite des politischen Spektrums geht der Pakt jedoch nicht weit genug.
„Der [Migrations-]Pakt bietet uns nicht alle notwendigen Mittel, um die Europäische Union vor illegaler Einwanderung zu schützen“, erklärte ein hochrangiger EVP-Europaabgeordneter letzte Woche gegenüber Euractiv unter der Bedingung der Anonymität, um offen sprechen zu können.
„Die Rückführungspolitik ist immer noch blockiert, obwohl sie dringend angegangen werden muss. Wir müssen auch weitere Investitionen in die Grenzschutzinfrastruktur in Erstaufnahmeländern tätigen“, fuhr der Abgeordnete fort.
Schengen-Reform
Es ist nicht nur der Migrationspakt, den Retailleau und andere EU-Vertreter neu verhandeln wollen. Sie sind auch bereit, eine Überarbeitung der Schengen-Abkommen vorzuschlagen, welches das kontrollfreie Reisen zwischen den EU-Mitgliedstaaten ermöglichen.
„Wir haben im November 2015 Grenzkontrollen eingeführt [nach den Terroranschlägen in Paris]. Lassen Sie uns sehen, wie weit wir gehen können [um diese Kontrollen dauerhaft zu machen]“, sagte Retailleau.
Derzeit haben acht EU-Staaten Grenzkontrollen im Einsatz, wobei die meisten von ihnen „Migrationsdruck“ als Grund anführen.
„Wir sehen, was ein sozialdemokratischer Kanzler [in Sachen Grenzkontrollen] tut, was ein sozialdemokratischer Minister in Dänemark macht, was ein sozialdemokratischer Premierminister im Vereinigten Königreich unternimmt – das sollte für uns ein Weckruf sein“, sagte Premierminister Michel Barnier, dessen harte Haltung zur Einwanderung kein Geheimnis ist, am Sonntag.
Vorübergehende Grenzkontrollen sind laut EU-Recht erlaubt, solange sie vor der Europäischen Kommission gerechtfertigt werden. Um sie dauerhaft zu machen, wäre jedoch eine erhebliche rechtliche Änderung erforderlich.
Die Verantwortung liegt wahrscheinlich demnächst bei dem designierten österreichischen Kommissar für Inneres und Migration, Magnus Brunner. Er muss sich mit diesen Mitgliedstaaten auseinandersetzen und eine koordinierte EU-Antwort entwickeln, um zersplitterte Einzelgänge zu vermeiden.
Das Mandatsschreiben, das Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an Brunner gerichtet hat, umfasst die Aufsicht über die Umsetzung der „jüngsten Verbesserungen des Schengen-Rahmens“ und die „Leitung weiterer Überlegungen zu innovativen operativen Lösungen zur Bekämpfung illegaler Migration“.
Retailleau kündigte außerdem an, dass er neue „Migrations“-Abkommen mit den Maghreb-Staaten, ähnlich dem Italien-Albanien-Modell, anstrebe. Außerdem wolle er das bilaterale Abkommen zwischen Paris und Algier, das die Visumspflicht für Algerier zur Ansiedlung in Frankreich aufhebt, neu verhandeln.
[Bearbeitet von Owen Morgan/Kjeld Neubert]