Frankreich und Deutschland seien zuversichtlich, dass eine teilweise institutionelle Reform der EU noch in diesem Jahr möglich sein werde, erklärten die französischen und deutschen Staatsministerinnen für Europa, Laurence Boone und Anna Lührmann, in einem Exklusivinterview mit EURACTIV.
Die beiden Länder streben insbesondere den Wechsel von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit in Politikbereichen wie der Außenpolitik oder der Besteuerung an, um die EU vor der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten – wie der Ukraine – handlungsfähiger zu machen.
Dieser Schritt wäre bereits im Rahmen der bestehenden Verträge mithilfe der sogenannten Passerelle-Klausel möglich. Diese erlaubt es den EU-Ländern, zu entscheiden, dass in bestimmten Politikbereichen mit qualifizierter Mehrheit statt einstimmig abgestimmt wird, ohne hierfür die Europäischen Verträge zu ändern.
„Das ist eine Option, die wir prüfen wollen, um unsere Stärke als globaler Akteur in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu erhalten“, sagte die deutsche Ministerin Lührmann im Interview.
„Auch in anderen Politikbereichen wäre es ein wichtiges Signal, die Passerelle-Klausel zu nutzen, um noch in diesem Jahr zur qualifizierten Mehrheit überzugehen“, erklärte sie. Dabei sei sie „zuversichtlich“ diese Reform noch dieses Jahr auf den Weg zu bringen.
Ihre französische Amtskollegin Boone betonte, ein solcher Vorstoß wäre „ein wichtiger Schritt zu mehr Integration und Effizienz.“
Allerdings sollte die Umstellung auf die qualifizierte Mehrheit hierbei nur den ersten Schritt darstellen und „in einem begrenzten, sehr pragmatischen Rahmen“ erfolgen, um zu zeigen, „dass die EU 27 in der Lage ist, sich selbst zu reformieren“, so Lührmann.
EU fit für die Erweiterung machen
Sowohl Frankreich als auch Deutschland drängen auf eine größere EU-Reform, bevor einer der acht Beitrittskandidaten aufgenommen wird.
„Wir sind uns alle einig, dass wir mit dieser Erweiterungsrunde anders umgehen müssen als mit der letzten und dass wir unsere Institutionen reformieren müssen, um für die EU mit neuen Mitgliedsstaaten fit zu sein“, betonte Boone.
„Wir können keine Erweiterung durchführen, ohne die EU zu reformieren“, fügte sie hinzu.
Deutschland hat sich bereits vielfach dafür starkgemacht, eine EU-Reform und die Erweiterung miteinander zu verbinden, mit dem Argument, die EU müsse auch institutionell erst in die Lage versetzt werden, neue Mitglieder aufnehmen zu können. Ohne Reformen könnte die EU aus Lührmanns Sicht deutlich an Handlungsfähigkeit einbüßen.
„Viele Experten in ganz Europa bezweifeln, dass der derzeitige institutionelle Aufbau der EU funktioniert und dass wir mit einer erweiterten EU, die eines Tages mehr als 30 Mitgliedstaaten umfassen wird, weiterhin in der Lage sind, handlungsfähig zu sein. Deshalb haben wir der Einleitung dieser Reformdebatte eine hohe Priorität eingeräumt“, erklärte Lührmann.
Boone betonte außerdem, dass bei künftigen Reformen alles auf dem Tisch liege. „Wir sollten keine Tabus haben, wenn es um Reformen geht“, sagte sie. Zwar sei sie davon überzeugt, dass die Vertragsreform kein Selbstzweck sei, betonte aber auch, dass „wir viel Interesse und Begeisterung für eine neue, erweiterte EU wecken können, die ebenfalls reformiert wird.“
Andere EU-Staaten mit an Bord?
Der ursprüngliche Aufruf zur Reform der EU im vergangenen Mai war mit gemischten Signalen aufgenommen worden. In einem gemeinsamen Positionspapier warnten damals 13 Mitgliedstaaten vor zu hohen Erwartungen und sprachen sich gegen jegliche Form umfassender Vertragsänderungen aus.
Den beiden Ministerinnen zufolge stößt die Idee jedoch zusehends auf positiven Rückhall bei den anderen Mitgliedsstaaten. Eine Reform, sowohl innerhalb der bestehenden Verträge als auch in einer vertraglichen Neuausgestaltung ist nämlich nur möglich, wenn alle Mitgliedsstaaten zustimmen.
„Die Idee, dass wir die EU für die Erweiterung fit machen müssen, gewinnt unter den Mitgliedsstaaten immer mehr an Boden“, so Lührmann.
Frankreich und Deutschland haben im vergangenen Jahr bereits eine Reihe von Initiativen gestartet, um die Grundlagen für die Reform zu schaffen. Im Januar haben die beiden Länder eine deutsch-französische Arbeitsgruppe von Experten für institutionelle Reformen der EU ins Leben gerufen.
Darüber hinaus haben sie Anfang Mai eine „Freundesgruppe für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen“ in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU ins Leben gerufen.
„Die EU-Länder sind viel anpassungsfähiger und agiler, als die Leute denken“, sagte Boone.
Während die anfänglichen Reaktionen auf die deutsch-französische Expertengruppe eher zögerlich gewesen seien, hätte sie eine Debatte unter den Mitgliedsstaaten ausgelöst, fügte sie hinzu.
„Ich würde sagen, dass es seither enorme Fortschritte in dieser Frage gegeben hat“, so die französische Ministerin.
Auch Lührmann betonte, dass die Idee einer Reform zusehends Breitenwirkung entfalte.
„Vor drei Wochen haben wir alle unsere Kollegen und die deutsch-französischen Experten zu einem Abendessen nach Brüssel eingeladen, um die Überlegungen der Experten und die Beiträge der Mitgliedstaaten zu hören, die ihre jeweilige Perspektive in den Prozess einbringen wollten“, so Lührmann.
„Es war ein großer Erfolg, mit einer lebhaften und äußerst bereichernden Debatte“, fügte sie hinzu.
Sogar Polen, das jede Art von EU-Reform stets kritisiert hat, erwärme sich zunehmend für die Idee, so Boone.
„Polen ist nicht gegen die EU-Reform. Sie haben vielleicht nicht dieselbe Auffassung von EU-Reformen wie wir, aber sie sind nicht dagegen“, betonte sie. „Wir haben diese Diskussion bereits mit unseren polnischen Kollegen geführt“.