(Zu) hohe Erwartungen an die Hohe Vertreterin?

In Catherine Ashtons Händen liegt die Außenpolitik der EU. Oder doch nicht? (Foto: dpa)

Seit die Staats- und Regierungschefs am 19. November 2009 überraschend Catherine Ashton auf den Posten der Hohen Vertreterin für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik hoben, steht die Britin im Kreuzfeuer der Kritik. Eine Kritik, die die Würzburger Politologin Carolin Rüger im Standpunkt für EURACTIV.de relativiert.

Zur Person

" /Carolin Rüger, M.A., ist Politologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Professur für Europaforschung und Internationale Beziehungen am Würzburger Institut für Politikwissenschaft und Sozialforschung. Sie ist Mitglied im Team Europe, dem Rednerteam der Europäischen Kommission. Zusammen mit Prof. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet veröffentlichte sie den kürzlich erschienen Sammelband "The High Representative for the EU Foreign and Security Policy – Review and Prospects" (Baden-Baden: Nomos 2011).
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Sie sei außenpolitisch völlig unerfahren, ein politisches Leichtgewicht, sei noch nie in ihrer Karriere demokratisch in ein Amt gewählt worden, spreche nicht einmal Französisch, die Sprache der Diplomatie, und habe ihre Ernennung nur der Tatsache zu verdanken, dass sie eine Frau, Britin und im politischen Spektrum Mitte-Links einzusortieren sei.

Damit habe sie zwar die formalen Kriterien der EU-Logik erfüllt, wonach die drei Spitzenjobs (Ständiger Präsident des Europäischen Rates, Kommissionspräsident und Hoher Vertreter) ausgewogen verteilt werden sollten. Die fachliche Qualifikation ist dabei aber in den Augen der Kritiker völlig auf der Strecke geblieben.

Europas blasses Gesicht in der Welt

Vor allem die europäische Presse übt scharfe Kritik an Ashton und belegt sie mit wenig schmeichelhaften Titulierungen wie "Lady Who", "Aschenputtel mit Jetlag", "bange Baroness" oder "Europas blasses Gesicht in der Welt".

Auch auf breiter politischer Ebene werden Missbilligung und Enttäuschung über Ashtons Amtsführung immer lauter. Angesichts der "Arabellion" in Europas direkter Nachbarschaft zeige sich die Chefdiplomatin der EU passiv, sprachlos und visionslos (EURACTIV.de vom 17. Juni 2011, 6. Mai 2011, 4. Februar 2011). Selbst auf hochrangiger Ministerebene wird unverblümt Kritik an der Außenbeauftragten geäußert. Laut Wolfgang Schäuble verfüge Ashton "nicht über die Kraft, Europa als einen Akteur darzustellen".

Und in der Riege der europäischen Außenminister, denen Ashton im Auswärtigen Rat vorsitzt, brach Anfang Mai der belgische Außenminister ein Tabu, indem er als Erster öffentlich seine Enttäuschung über die bisherige Leistung der Hohen Vertreterin zum Ausdruck brachte. Der Vertrag von Lissabon scheint den hohen Erwartungen an ein einheitlicheres Auftreten der EU auf der Weltbühne nicht gerecht zu werden.

Notwendige Relativierung der Kritik

So richtig es ist, die Uneinigkeit der EU angesichts der revolutionären Vorgänge in Nordafrika anzuprangern, so falsch ist es, dieses europäische Versagen allein Europas Chefdiplomatin anzulasten. Um die an Ashton gerichteten Vorwürfe adäquat einordnen zu können, hilft es erstens, einen Blick in ihre Arbeitsgrundlage, den Vertrag von Lissabon, zu werfen; zweitens kann man aus dem Wirken ihres Vorgängers Javier Solana Lehren für die Bewertung der neuen Hohen Vertreterin ziehen.

Mission impossible?

Laut "Job-Beschreibung" im Vertrag von Lissabon ist Ashton eben keine Außenministerin der Union, sondern "Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik". Vertreten kann sie nur eine gemeinsame europäische Position, wenn diese vorher festgelegt wurde. Hierzu ist auch in der Post-Lissabon-Ära in der überwältigenden Mehrheit der Fälle immer noch Einstimmigkeit unter den einzelstaatlichen Regierungen erforderlich.

Die EU-Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge konnten sich im langjährigen Reformprozess eben nicht auf Mehrheitsentscheidungen oder auf einen echten EU-Außenminister einigen. Stattdessen siedelten sie die neue Position im Spannungsfeld zwischen Rat und Kommission an. Sie setzten der Hohen Vertreterin den so genannten "Doppelhut" auf: Als Vorsitzende im Rat der Außenminister und Vizepräsidentin der Kommission soll die Hohe Vertreterin die außenpolitischen Sphären von Rat und Kommission verbinden und europäische Außenpolitik aus einem Guss garantieren. Die europäische Antwort auf das Erdbeben in Haiti Anfang 2010 führte erstmals alle Stränge des auswärtigen Handelns der EU zusammen.

Der Doppelhut ist allerdings auch mit einer doppelten Aufgabenfülle und daraus resultierenden Terminkonflikten verbunden. In weiser Voraussicht äußerte Ashtons Vorgänger Javier Solana, Hoher Vertreter von 1999 bis 2009, schon vor ihrer Ernennung die Befürchtung, dass die Doppelbelastung sich als eine "mission impossible" erweisen könne.

Lehren aus der Solana-Dekade

Die zehnjährige Amtszeit von Ashtons Vorgänger Solana zeigt außerdem, dass ein Hoher Vertreter nur mit, niemals gegen die Mitgliedsstaaten mit Erfolg wirken kann. Auch der weithin als "Brüssels Liebling" und "Mister Fix-it" anerkannte, diplomatisch versierte Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) konnte während der Irak-Krise 2003 die Spaltung Europas und den "GAU" für die GASP nicht verhindern.

Im Unterschied zu damals hat der Vertrag von Lissabon die Erwartungen an Solanas Nachfolgerin erhöht – und möglicherweise überhöht. Ashton ist jetzt Kristallisationspunkt für Kritik und enttäuschte Erwartungen von allen Seiten.

Man darf jedoch nicht vergessen, dass der Spielraum der Hohen Vertreterin begrenzt ist. Ihr stehen kaum mehr Mittel zur Verfügung, um die Mitgliedsstaaten zur europäischen Ordnung zu rufen, als ihrem Amtsvorgänger.

Was hilft der Hohen Vertreterin ihr vertraglich verbrieftes Recht (Art. 30 EUV-Lissabon), eine außerordentliche Sitzung der Außenminister einzuberufen, wie sie es am 10. März 2011 zur gemeinsamen Bewertung der Situation in Libyen getan hat, wenn Nicolas Sarkozy und David Cameron sich vorab in einem Brief auf eine (von Ashton abgelehnte) Flugverbotszone festlegen und Frankreich vorprescht, um als erstes europäisches Land den oppositionellen Nationalen Übergangsrat als legitime Vertretung Libyens anzuerkennen?

Was nützt der Hohen Vertreterin die in Artikel 34 EUV-Lissabon vorgesehene Option, im UN-Sicherheitsrat europäische Positionen vorzutragen, wenn keines der aktuellen europäischen Sicherheitsratsmitglieder (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Portugal) Gebrauch von dieser Möglichkeit machen will und von der ebenfalls vertraglich vorgeschriebenen Absprache der Mitgliedstaaten untereinander keine Rede sein kann?

Wie glaubwürdig und dienlich ist die Einrichtung eines EU-Verbindungsbüros in Bengasi durch Catherine Ashton am 22. Mai 2011, wenn Deutschland (gefolgt von weiteren europäischen Regierungen) einen Tag später die Eröffnung eines eigenen Verbindungsbüros bekannt gibt?

Könnte es nicht auch daran liegen, dass Ashton als sprachlos wahrgenommen wird, weil sie von der Lautstärke der Mitgliedsstaaten übertönt wird?

It’s the member states, stupid!

Die Kritik an der aktuellen Kakophonie der EU-Außenpolitik ist berechtigt – aber fehlgerichtet. Die neu geschaffene Position Catherine Ashtons zieht die Kritik wie ein Magnet an. In Anlehnung an einen berühmten Ausspruch von Bill Clinton gilt aber in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik auch nach Lissabon: "It’s the member states, stupid!" Ohne den politischen Willen der Mitgliedsstaaten sind Einfluss und Spielraum der Hohen Vertreterin sehr gering. Ashton selbst weist (noch) zu zaghaft auf die Schranken ihres Wirkens hin und rechtfertigt stattdessen die Souveränität der Mitgliedsstaaten.

Die harsche Missbilligung der europäischen Außenbeauftragten hält einer objektiven Betrachtung allerdings nicht stand. Mal wird Ashton vorgeworfen, reaktiv zu handeln und somit immer zu spät zu kommen; wenn sie dagegen aktive Initiative zeigt, unterstellt man ihr Geheimdiplomatie.

So geschehen vor wenigen Tagen, als Ashton bei einem Treffen in Luxemburg teilnahm, um dem Nahost-Friedensprozess neues Leben einzuhauchen und die Palästinenser davon abzuhalten, im September ihre völkerrechtliche Anerkennung zu forcieren, was einen erneuten „Kosovo-Moment“ in der EU bedeuten könnte.

Ashton arbeitet daran, eine Spaltung der EU wie bei der völkerrechtlichen Anerkennung des Kosovo zu vermeiden. Erfolge wie die koordinierte Hilfe für Haiti, die Vermittlung zwischen Serbien und dem Kosovo oder die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, bei der Ashton mit heftigen institutionellen Grabenkämpfen konfrontiert war, werden in ihrer Bilanz von den Beobachtern gern unterschlagen.

Misserfolge werden oft zu Unrecht der Hohen Vertreterin angelastet. Die Dissonanzen in Libyen verursachte nicht Ashton. Es darf nicht vergessen werden, dass die "Arabellion" ein außerordentlicher außenpolitischer Stresstest für die noch junge neue Architektur der EU ist. Alle Akteure der internationalen Politik wurden von den Entwicklungen in der arabischen Welt weitgehend unvorbereitet getroffen.

Kräftezehrender Spagat

Insgesamt sind die derzeitigen Probleme weniger ein in der Personalie Catherine Ashtons liegendes als ein strukturelles Problem, das in der Konstruktion der neuen Position begründet ist. Im kräftezehrenden Spagat zwischen zwei Institutionen und immer angewiesen auf die Unterstützung durch die Mitgliedsstaaten kann der erhoffte Mehrwert des "Hohen Vertreters 2.0" sich schnell in Luft auflösen. Die neue Position hat nur Potenzial, wenn Mitgliedsstaaten und Hohe Vertreterin an einem Strang ziehen.

Abschließend muss man festhalten: Ja, es gab ohne Zweifel stärkere und außenpolitisch renommiertere Kandidaten für das im Vertrag von Lissabon neu geschaffene Amt, aber umso mehr verdient und benötigt Catherine Ashton die Unterstützung der europäischen Staats- und Regierungschefs, die sie zur Hohen Vertreterin berufen haben – vorausgesetzt den Sarkozys, Merkels und Camerons ist an einer wahrhaft gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gelegen. Daran gibt es derzeit begründete Zweifel – und das ist das eigentliche Versäumnis.

Links:


Link zur Studie "The High Representative for the EU Foreign and Security Policy – Review and Prospects"

EURACTIV.de: LinkDossier über Catherine Ashton und den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) 

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