Polen hat bereits eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa und die erzkonservative Regierung steht kurz davor, die gewünschte weitere Verschärfung durchzudrücken. Ein genauerer Blick auf andere europäische Länder zeigt jedoch, dass auch der allgemeine Trend eher nicht in Richtung Liberalisierung geht. Auf EU-Ebene ist die Europäische Kommission rechtlich nahezu machtlos.
Der Protest gegen ein striktes Abtreibungsverbot in Polen geht weiter und entwickelt sich nun zu einer veritablen Anti-Regierungsbewegung: Die Empörung richtet sich nicht ausschließlich gegen die Richter, die das Gesetz gebilligt haben, sondern auch gegen die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die das Gericht de facto kontrolliert.
Doch auch die Kirche, die im katholisch geprägten Polen bisher als unantastbare Autorität galt, ist das Ziel der Proteste meist junger Demonstrierender.
„Es begann mit dem Abtreibungsgesetz. Es war wie ein Anstoß, diesen Zorn zum Ausdruck zu bringen,“ fasst Klementyna Suchanow, Mitbegründerin der Frauenstreikbewegung, zusammen. Im Gespräch mit EURACTIV Polen erklärte auch sie, dass sich die Proteste inzwischen auf andere Themen ausgeweitet haben: „Aktuell geht es praktisch um alles.“
Es ist nicht der erste Versuch, die reproduktiven Rechte von Frauen in Polen einzuschränken. Bereits 2016 gingen Tausende Menschen auf die Straße, um gegen ein vorgeschlagenes vollständiges Abtreibungsverbot zu protestieren.
Der Vorschlag wurde damals schließlich fallen gelassen. Das Thema wird seither aber regelmäßig von Konservativen aufgegriffen.
Zehntausende heimliche Abtreibungen
Schon vor der jüngsten Gesetzesänderung waren die polnischen Abtreibungsgesetze überaus restriktiv. Für die Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch wurden bisher drei Gründe gelten gelassen: wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, bei Vergewaltigung oder Inzest, sowie bei schweren und irreversiblen Defekten oder Missbildungen des Fötus.
Von den gut 1.110 legalen Abtreibungen in polnischen Krankenhäusern im Jahr 2019 wurden etwa 98 Prozent wegen fötaler Defekte durchgeführt, zitiert die Presseagentur PAP Daten des polnischen Gesundheitsministeriums. Nach Angaben von Bürgerrechtsorganisationen käme ein Abtreibungsverbot in letzterem Begründungsfall somit einem vollständigen Verbot gleich.
Inzwischen hat der polnische Präsident Andrzej Duda einen erneuerten Gesetzentwurf angekündigt, der die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs vorsieht, wenn es laut einer medizinischen Diagnose wahrscheinlich ist, dass das Kind aufgrund seiner Missbildungen tot geboren wird oder kurz nach der Geburt stirbt.
Schätzungen zufolge reisen jährlich etwa 100.000 polnische Frauen ins Ausland, um dort abzutreiben, so UN-Experten. Besonders „beliebt“ sind dabei die Nachbarstaaten Deutschland und Tschechien, wo Schwangerschaftsabbrüche wesentlich leichter durchgeführt werden können.
Gleichzeitig klafft in Polen eine riesige Lücke zwischen den besagten rund 1.100 legalen Abtreibungen, die in medizinischen Einrichtungen stattfinden, und sogenannten „klandestinen oder informellen Abtreibungen“, die die UN auf 80.000 bis sogar 180.000 pro Jahr schätzt.
Die polnische Regierung behauptet hingegen, diese Zahl dürfte weniger als 10.000 betragen.
EU-Kommission machtlos?
Anfang November schrieben Mitglieder der polnischen Linkspartei (Lewica) einen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und forderten sie auf, sich gegen eine Verschärfung des Anti-Abtreibungsgesetzes in Polen einzusetzen. Ein ähnlicher Brief wurde an die Kommissarin für Gleichberechtigung, Helena Dalli, geschickt.
Eine Kommissionssprecherin bestätigte gegenüber EURACTIV.com, dass der Brief eingegangen sei und eine Antwort „zu gegebener Zeit“ erfolgen werde.
Auf Nachfrage, ob die Einschränkung der Abtreibungsrechte im Einklang mit den europäischen Werten und den EU-Grundrechten stehe, verwies die Kommissionssprecherin auf die EU-Verträge: „Aus rechtlicher Sicht möchte ich daran erinnern, dass die EU laut den Verträgen keine Zuständigkeit für das Recht auf Abtreibung hat. Die Gesetzgebung in diesem Bereich obliegt den Mitgliedsstaaten.“
Die Sprecherin erinnerte weiter an ein Statement von der Leyens, die Ende Oktober betonte, dass „starke Frauenrechte ein Gewinn und eine Errungenschaft für ganz Europa“ seien. Rückschritte seien daher „keine Option“. Von der Leyen warnte: „Fortschritt ist schwer zu erringen, aber leicht zu verlieren.“
Und im Rest Europas?
Die Abtreibungsgesetze in Europa sind sehr unterschiedlich: Sie reichen von einem völligen Verbot über Eingriffe, die nur unter bestimmten Bedingungen zulässig sind, weitere rechtliche Einschränkungen (beispielsweise bezüglich Beratung oder Informationen) bis hin zu Regelungen, die Frauen die freie Wahl lassen, ob sie eine Schwangerschaft beenden wollen oder nicht.
Lediglich Malta und die Kleinstaaten Andorra und San Marino haben derzeit restriktivere Abtreibungsgesetze als Polen. Eine Frau, die in Malta ihre Schwangerschaft abbricht, riskiert eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren, selbst wenn sie von einem Vergewaltiger schwanger wurde oder wenn die Schwangerschaft ihre Gesundheit oder ihr Leben gefährdet.
98 Prozent der Bevölkerung des Landes sind katholisch; Scheidungen waren noch bis 2011 illegal.
In Staaten wie Irland und Zypern gab es in den vergangenen Jahren Liberalisierungen, sodass Abtreibungen nun bis zu gewissen Schwangerschaftszeiträumen erlaubt sind.
Gerade Irland, wo die katholische Kirche einen starken Einfluss auf die Beurteilung moralischer Fragen sowie auf Politik und Gesetzgebung hat, hatte zuvor eines der strengsten Abtreibungsverbote in der EU, laut dem Frauen im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs mit Gefängnisstrafen von bis zu 14 Jahren rechnen mussten.
Die anhaltende öffentliche Debatte führte schließlich zu einem Referendum über eine entsprechende Verfassungsreform. Dieses war erfolgreich, mündete in der Abschaffung der alten Regelungen im Jahr 2018 und ebnete den Weg für einen modernisierten Rechtsrahmen.
Ausschlaggebend für das Abstimmungsverhalten im Referendum dürfte unter anderem die allgemeine Empörung über Missbrauchsfälle und den Umgang der katholischen Kirche damit gewesen sein.
Nach den neuen Regeln wurde Abtreibung in Irland somit legal, wenn sie innerhalb der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft durchgeführt wird. Nach diesem Zeitraum ist ein Schwangerschaftsabbruch noch in Fällen erlaubt, in denen das Leben oder die Gesundheit der Frau gefährdet ist oder wenn die Möglichkeit einer tödlichen fötalen Anomalie besteht.
Der irische Premierminister Leo Varadkar bezeichnete die Abstimmung als den Höhepunkt einer „stillen Revolution“ in dem zutiefst katholischen Land.
Das slowakische Parlament hat seinerseits Anfang dieses Monats gegen vorgeschlagene Einschränkungen im Abtreibungsrecht gestimmt. Mit dem von konservativen Politikern eingebrachten Gesetz hätten Frauen ihre Gründe für eine Abtreibung darlegen und sich stärker rechtfertigen müssen. Außerdem hätte es eine 96-stündige „Bedenkzeit“ zwischen einem Gespräch mit ihrer Ärztin oder Arzt und der tatsächlichen Abtreibung gegeben. Kliniken wäre die „Werbung“ – also Information über Schwangerschaftsabbrüche – untersagt worden.
Es war einer von mehreren Gesetzentwürfen, die Beschränkungen der reproduktiven Rechte vorschlugen und bereits 2019 sowie 2020 im Parlament des Landes abgelehnt wurden.
In den Niederlanden sind Abtreibungen bis zur 24. Schwangerschaftswoche zulässig. Damit zählen sie zu den liberalsten Ländern Europas. Vorgeschrieben ist allerdings ein Gespräch mit ärztlichem Fachpersonal sowie eine fünftägige Bedenkzeit, bevor der Abbruch vorgenommen werden darf.
Die meisten EU-Länder erlauben Abtreibungen auf Verlangen in den ersten zehn, teilweise 14 Schwangerschaftswochen, darunter Frankreich, Belgien, Dänemark und Griechenland. Für Fälle von Vergewaltigung oder fötalen Missbildungen werden die Fristen verlängert.
Allerdings ist die Verbreitung von Informationen oder „Werbung“ durch Leistungserbringer oftmals verboten oder strikt reguliert. Eine entsprechende, scharf geführte Debatte gab es im vergangenen Jahr auch in Deutschland.
In Portugal gelten ähnliche Fristen, allerdings wurden die Gesetze kürzlich verschärft. Frauen müssen den Eingriff nun selbst bezahlen, die Kassen übernehmen die Kosten nicht mehr.
Weniger Abtreibungen, mehr Konservatismus?
Laut Eurostat war in den vergangenen zehn Jahren in mehr als der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten ein Rückgang der Schwangerschaftsabbrüche zu verzeichnen.
Lediglich im Vereinigten Königreich, Frankreich und Deutschland – die in absoluten Zahlen die meisten Abtreibungen pro Jahr aufweisen – sind die Abbruchszahlen relativ stabil geblieben.
Dennoch wird die Liberalisierung der Abtreibung in vielen – insbesondere katholisch geprägten – Ländern Europas wieder in Frage gestellt. Die neuen restriktiven Gesetze in Polen gelten konservativen Parteien in der Slowakei, Italien, Spanien oder Kroatien dabei als Vorbild, liberalere Lösungen rückgängig zu machen.
Erzkonservative Internationale
Weltweit verbieten aktuell mindestens 26 Länder Abtreibungen komplett, darunter die Dominikanische Republik, El Salvador, Madagaskar, Nicaragua, die Philippinen, Senegal und Surinam.
Erst im Oktober unterzeichneten 32 Länder die Anti-Abtreibungserklärung Geneva Consensus Declaration, die nach eigener Aussage das Ziel hat, Frauen zu schützen und „das Leben“ zu verteidigen. Neben der Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und der beobachteten Notwendigkeit einer universellen Krankenversicherung wird auch festgehalten, „dass es kein internationales Recht auf Schwangerschaftsabbruch gibt“.
Das von den USA, Brasilien, Ägypten, Indonesien, Ungarn und Uganda vorgelegte Dokument wurde – neben Polen – unter anderem auch von Belarus, dem Irak, Libyen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterzeichnet.
[Bearbeitet von Frédéric Simon, Samuel Stolton und Tim Steins]