Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs sei Getreide zum Kriegsmittel geworden, sagt Swantje Nilsson, Abteilungsleiterin im Agrarministerium, im Interview mit EURACTIV Deutschland. Nun Rückschritte beim Umwelt- und Klimaschutz zu machen, wäre laut Nilsson aber “fatal.”
Weil die Ukraine, einer der wichtigsten globalen Weizenlieferanten, ihr Getreide wegen der Blockade ihrer Schwarzmeerhäfen durch Russland kaum exportieren kann, haben internationale Organisationen zuletzt immer wieder vor Nahrungsmittelknappheit in besonders importabhängigen Teilen der Welt gewarnt.
Die Frage der globalen Ernährungssicherung habe vor diesem Hintergrund “eine geopolitische Komponente” bekommen, die sich unter anderem darin zeige, dass das Thema nun immer wieder in hochrangigen Gesprächen vorkomme, so Nilsson, die im Bundeslandwirtschaftsministerium die Abteilung für EU-Angelegenheiten, internationale Zusammenarbeit und Fischerei leitet.
Erst am Mittwoch (8. Juni) rief beispielsweise Kommissionschefin Ursula von der Leyen vor dem Plenum des EU-Parlaments in Straßburg die Weltgemeinschaft dazu auf, in der Frage der weltweiten Lebensmittelversorgung Solidarität zu zeigen und Handelsflüsse am Laufen zu halten.
Derweil sprach Bundeskanzler Scholz in einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj über den Export des ukrainischen Getreides und waren sich laut Regierungssprecher Steffen Hebestreit einig, dass alles getan werden müsse, um die Ausfuhr übers Schwarze Meer zu ermöglichen.
Russland, nicht westliche Sanktionen, heizt Krise an
“Wir erleben, dass Getreide wirklich gerade ein Kriegsmittel ist”, so Nilsson. Wichtig sei es deshalb, bei der Frage der globalen Ernährungssicherung mit allen Akteuren, auch der Zivilgesellschaft, zusammenzuarbeiten.
Als besonders heikel hat sich zuletzt die Frage erwiesen, wie die EU russische Propaganda in Bezug auf die Lebensmittelknappheit vor allem in afrikanischen Staaten entgegentreten kann.
Obwohl Russland selbst die Häfen in der Ukraine blockiert und Lebensmittelexporte von den Sanktionen gegen Russland ausgenommen sind, behauptet der Kreml, die globale Ernährungskrise sei auf westliche Sanktionen zurückzuführen.
“Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg auf die Ukraine verschärft den Hunger in der Welt, nicht die westlichen Sanktionen. Wir unterstützen, um die Not zu lindern”, betonte Nilsson, die darauf hinwies, dass Deutschland zweitgrößter Geber des Welternährungsprogramms sei und zusätzlich 430 Millionen Euro für die Welternährung bereitgestellt habe.
Während der Schwerpunkt nun also zunächst darauf liege, humanitäre Hilfe bei der Nahrungsmittelversorgung zu leisten, könne dies aber nur ein erster Schritt sein. Auch langfristig müsse weltweit das Recht auf Nahrung gesichert werden, betonte die Beamtin.
Bisher stark importabhängige Weltregionen müssten in dem Zuge dabei unterstützt werden, selbst eine nachhaltige und resiliente Lebensmittelproduktion für die Eigenversorgung aufzubauen, erklärte sie.
Kein Rollback bei Umwelt- und Klimaschutz
Auch, was die Produktion innerhalb Europas angeht, drängte Nilsson darauf, die Wende hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen nun nicht hintanzustellen.
Während die Solidarität mit der Ukraine “oberstes Gebot” sei, dürfe man “beim Klimaschutz jetzt keinen Pausenknopf drücken, denn Klimakrise und Artensterben pausieren auch nicht”, betonte die Beamtin, die dazu aufrief, verschiedene Krisen nicht gegeneinander auszuspielen.
Den Ansatz der EU-Kommission, den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität beim Schutz von Brachflächen in der Landwirtschaft einzuräumen, sowie die Vorstöße einiger Mitgliedstaaten, Umwelt- und Klimaauflagen innerhalb der neuen Gemeinsamen Agrarpolitik im Namen der Produktionssteigerung zu lockern, sieht man im Bundesagrarministerium mit Sorge.
“Es ist kein Geheimnis, dass wir uns bei der GAP-Reform einen ambitionierten Neustart vorgestellt haben”, so Nilsson, die kurz nach Amtsantritt des grünen Bundesagrarminsiters Cem Özdemir die Abteilungsleitung übernommen hatte. “Von daher wäre ein Rollback beim Klima- und Artenschutz wirklich fatal.”
Dazu gehört aus Sicht der Beamtin auch, dass die Kommission nun rasch ihren Vorschlag für die Überarbeitung der EU-Pestizidverordnung vorlegen müsse, den sie im März angesichts des Ukrainekriegs verschoben hatte.
Weniger Tiere besser füttern
Die Folgen des Ukrainekriegs seien für die internationalen Getreidemärkte “ein Weckruf, zu schauen: Wie ist es denn wirklich sinnvoll, dass wir unsere Ernährung gestalten”, so Nilsson.
So müssten einerseits Flächenkonkurrenzen zwischen Tank, Teller und Trog, die zulasten der Lebensmittelerzeugung gingen, aufgelöst und Lebensmittelverluste entlang der Wertschöpfungskette vermieden werden. “Wenn wir weniger Tiere besser füttern, können mehr Menschen satt werden”, betonte sie.
Die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, ist auch als Ziel in der EU-Flaggschiffstrategie für den Ernährungsbereich, der Farm-to-Fork-Strategie verankert.
Solche Schritte sind aus Sicht der Beamtin Ausdruck davon, dass sich die europäische Agrarpolitik langsam in Richtung eines ganzheitlicheren Ansatzes bewegt, der nicht nur die Produktion, sondern die gesamte Wertschöpfungskette bis hin zum Verbraucher in den Blick nimmt.
„Bei der Transformation der landwirtschaftlichen Produktion stehen wir alle gemeinsam in der Verantwortung”, schloss Nilsson.