Der Ausgang der Bundestagswahl wird auch die Zukunft der EU prägen. Was fordern deutsche Verbände und Vereine von der künftigen Regierung hinsichtlich der europäischen Finanz-, Sozial- und Handelspolitik?
Nicht nur in Deutschland ist die Spannung hinsichtlich des Ausgangs der Bundestagswahl groß. Auch der Rest Europas schaut auf die Bundesrepublik – vermutlich aufmerksamer denn je.
Denn nie zuvor ist die EU derart auf die Probe gestellt worden wie in den vergangenen Jahren. Brexit, Migrationskrise, Finanzkrise – Umstellungen innerhalb Europas sind dringend erforderlich. Jean-Claude Juncker sieht das allerdings auch als Chance. „Ein Fenster der Möglichkeiten“ stehe nun offen, konstatierte der EU-Kommissionspräsident bei seiner Rede zur Lage der EU vor wenigen Tagen. Den Tag, an dem der Brexit abgeschlossen ist, werde der Moment sein, „um gemeinsam die Beschlüsse zu fassen, die für ein mehr geeintes, stärkeres und demokratischeres Europa notwendig sind.“
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist bereits im EU-Reformfieber, schlägt eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion mit einem einen europäischen Wirtschafts- und Finanzminister vor. Auch Vorschläge für ein Eurozonen-Budget hat er vorgelegt, das Wirtschaftskrisen wie jene in Griechenland künftig durch Nothilfe abfedern soll.
Ob er all diese Ziele gemeinsam mit der neuen Bundesregierung wird angehen können, wird mit über die Zukunft der EU entscheiden. Hinzu kommen Fragen wie etwa nach dem künftigen Umgang der EU mit der Türkei, der europäischen Verteidigungsagenda.
Doch auch viele Verbände und Vereine in Deutschland stehen einer enger zusammenwachsenden EU und Reformen in Europa positiv gegenüber – mit naturgemäß unterschiedlichem Fokus. Was sind ihre Erwartungen an die künftige Bundesregierung mit Blick auf die Zukunft Europas?
Der EU-Abgeordnete Rainer Wieland: Für eine engere Union der Völker Europas
„Wir erwarten von den künftig regierenden Parteien, dass sie ihr Handeln wieder an den Wurzeln der europäischen Einigung, ihren Gründen und Zielen auszurichten,“ fordert der Europaabgeordnete Rainer Wieland und Präsident der Europa-Union Deutschland (EUD). Ziel der europäischen Einigung bleibe eine immer engere Union der Völker Europas und ein demokratisch-rechtsstaatlicher Bundesstaat auf der Grundlage einer Verfassung.
EBD-Präsident Rainer Wend: Brauchen ein Bundesministerium für europäische Integration
Rainer Wend, Präsident der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) sieht die deutsche Europapolitik und ihre Instrumente „noch immer auf dem Stand des vergangenen Jahrhunderts“. Die Bundesregierung solle in die Gestaltung ihrer Europapolitik auch demokratische und repräsentative Verbände und Vereine aus allen Bereichen der Gesellschaft einbeziehen, fordert er.
Wends Vorschlag: Ein Bundesministerium für europäische Integration. Der verantwortliche Minister für besondere Aufgaben solle die Europapolitische Koordinierung verantworten und aus dem Bundeskanzleramt heraus die Beziehungen zwischen Berlin, Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten pflegen. Die deutsche Diplomatie dürfe nicht nur eine klassische Außenpolitik vertreten, sondern müsse in Form einer „European Public Diplomacy“ über staatliche Akteure hinaus einen strukturierten europaweiten Dialog fördern.
Frank Burgdörfer vom EBD-Vorstand findet es „sehr enttäuschend, dass Parteistrategen und Medienmacher im Wahlkampf die Auseinandersetzung über die anstehenden, weitreichenden Entwicklungsschritte der EU vermieden haben“. Die voraussichtliche künftige Zusammensetzung des Bundestages werde Debatten erzwingen, die alle Demokraten im Interesse einer fundierten Meinungsbildung von sich aus aktiver suchen müssten“, hofft er.
Klaus Müller von der Verbraucherzentrale Bundesverband: Standards für Verbraucherschutz im Freihandel schaffen
Die Interessen der Verbraucher müssen in den Mittelpunkt gestellt werden, fordert die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) von den Parteien. In Hinblick auf Freihandelsabkommen wie das am Donnerstag provisorisch in Kraft tretende Abkommen mit Kanda CETA oder das Jefta-Abkommen mit Japan fordert der vzbv-Vorstand Klaus Müller: „Zudem müssen die Rechte und Standards in Handelsabkommen für Verbraucher gewahrt werden. Nur dann sind es gute Handelsabkommen.“
Linn Selle: Bundesregierung muss sich für Mehrjährigen Finanzrahmen ohne nationale Rabatte starkmachen
Im kommenden Jahr wird über den Haushalt zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR) verhandelt, für EBD-Vorstandsmitglied Linn Selle eine Chance, nach dem EU-Austritt Großbritanniens politische Prioritäten zur künftigen Ausrichtung der EU zu setzen. „Die neue Bundesregierung muss sich in der nächsten Legislaturperiode für einen ausreichend finanzierten Haushalt, ein Ende nationaler Rabatte und klare politische Prioritätensetzung einsetzen“, fordert Selle.
Gabriele Bischoff vom DBG-Bundesvorstand: Soziale Stabilisierung der EU ist überfällig
„Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erwartet, dass die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) endlich ausreichend stabilisiert wird, unter anderem durch eine Fiskalkapazität“, sagt Gabriele Bischoff, Abteilungsleiterin Europapolitik beim DBG-Bundesvorstand und Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA). Eine soziale Stabilisierung der EU sei überfällig, der Vorrang sozialer Grundrechte vor wirtschaftlichen Freiheiten müsse gewährleistet werden, meint meint sie.
Außerdem muss laut dem DGB die demokratische Entscheidungsfindung gestärkt werden, etwa mit europäischen Listen und dem Prinzip der EU-Spitzenkandidaten. „Last but not least muss der Investitionsplan aufgestockt und ausreichend öffentliche Investitionen ermöglicht werden“, so Bischoff.
Hans Peter Wollseifer vom Zentralverband des deutschen Handwerks (ZDH): Es gibt keine nationalistischen Lösungen
„Das „Projekt Europa“ verdient geschützt und weiterentwickelt zu werden,“ so ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer. „Denn es hat Deutschland wie allen beteiligten Ländern Frieden, Sicherheit und großen Wohlstand gebracht.“ Er betrachtet die wachsende Tendenz zur Abschottung mit Sorge: Für aktuelle Herausforderungen, wie die Sicherheitspolitik und der Umgang mit den globalen Migrationsbewegungen, gebe es keine nationalstaatlichen Lösungen.
Florian Rentsch, Verband der Sparda-Banken: Leitbild für deutschen Bankenmarkt fehlt
„KMU-Banken finanzieren den Mittelstand – und sind selbst Mittelstand! Das ist ein Fakt, der nicht nur auf bundesdeutscher Ebene, sondern auch im europäischen Kontext oft übersehen wird,“ mahnt Florian Rentsch, Vorsitzender des Vorstands des Verbands der Sparda-Banken e.V. Er fordert die Parteien vor der Bundestagswahl auf, sich der Erarbeitung eines Leitbilds für den deutschen Bankenmarkt zu widmen – „Denn dieses Leitbild existiert – trotz vieler guter Ansätze – immer noch nicht.“