Mario Draghis Forderung, die EU solle weiterhin gemeinsame Schulden zur Finanzierung wichtiger Investitionen machen, hat die Spaltung der ohnehin schon zerrissenen Bundesregierung vertieft. Auch die Kritik der Niederlande zeigt, dass nicht alle Vorschläge von Draghi auf Begeisterung stoßen.
Am Montag (9. September) präsentierte Draghi, der ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank, seinem mit Spannung erwarteten Bericht über die Zukunft der EU-Wettbewerbsfähigkeit. Darin erklärte er, dass Europa, „wenn die politischen und institutionellen Bedingungen“ erfüllt sind, „auf dem Modell“ seines 806,9 Milliarden Euro schweren Pandemieprogramms weiter aufbauen sollte.
Der Corona-Wiederaufbaufonds (NextGenEU) bietet den Mitgliedstaaten Zuschüsse und Darlehen für wichtige Investitionen im Gegenzug für gezielte Reformen, die durch von den EU-Mitgliedstaaten gemeinsam getragenen Schulden finanziert werden.
Historisch „sparsame“ EU-Staaten, darunter die Niederlande und Deutschland, sind entschieden gegen eine Verlängerung von NextGenEU. Es ist geplant, dass das Programm im August 2026 auslaufen wird.
„Mit einer gemeinsamen EU-Schuldenaufnahme lösen wir keine strukturellen Probleme: Unternehmen mangelt es nicht an Subventionen“, schrieb Finanzminister Christian Lindner (FDP), am Montag auf X. „Sie sind durch Bürokratie und Planwirtschaft gefesselt. Und haben Schwierigkeiten, an privates Kapital zu kommen. Daran müssen wir arbeiten.“
Lindners Einschätzung stand im starken Gegensatz zu der von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), der Draghis Bericht als „eine Handlungsaufforderung an die neue Europäische Kommission und die EU insgesamt“ bezeichnete.
„Ich sage gerne meine Unterstützung [für die Vorschläge des Berichts] zu. Innovationen, bessere Rahmenbedingungen und die Mobilisierung öffentlicher und privater Investitionen sind angesagt“, so der grüne Wirtschaftsminister, in seiner Erklärung.
Die stark voneinander abweichenden Meinungen der Minister kommen inmitten eines langwierigen Haushaltsstreits zwischen den Mitgliedern der „Ampel“.
Lindner, der sich bekanntlich für eine strenge Finanzpolitik einsetzt, hat wiederholt auf tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben gedrängt. Damit soll die verfassungsmäßig vorgeschriebene Schuldenbremse einzuhalten werden, was jedoch von den Grünen und der SDP kritisiert wird.
Der jüngste Streit folgt auch auf das katastrophale Abschneiden aller drei Koalitionsparteien bei den jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland, bei denen rechts- und linkspopulistische Parteien einen historischen Aufschwung erlebten.
Mehr Geld ist nicht immer die Lösung
Draghis Bericht wurde von den Mitgliedern der niederländischen Vier-Parteien-Koalitionsregierung, zu der auch die Rechtspopulisten gehören, einheitlich negativ aufgenommen.
„Mehr Geld ist nicht immer die Lösung“, wurde der niederländische Finanzminister Eelco Heinen, Mitglied der konservativen Volkspartei für die Freiheit (VVD/Renew), von der niederländischen Nachrichtenagentur ANP zitiert.
Ähnlich äußerte sich Wirtschaftsminister Dirk Beljaarts von der rechtspopulistischen Partei für die Freiheit (PVV/PfE) von Geert Wilders.
„Zusätzliche öffentliche Investitionen sind kein Selbstzweck“, wurde Beljaarts zitiert. „[Sie sind] nur im Falle von unlauterem Wettbewerb oder Marktversagen notwendig.“
Kritik an Draghis Forderung nach einer deutlichen Erhöhung der Investitionen auf EU-Ebene wurde auch von einigen EU-Diplomaten geäußert.
„Die Diskussion über weitere EU-Investitionen ist eine für den nächsten MFR [Mehrjährigen Finanzrahmen]“, sagte ein EU-Diplomat gegenüber Euractiv. Der aktuelle siebenjährige Finanzrahmen der EU in Höhe von 1,2 Billionen Euro läuft 2027 aus.
Unterstützung von Spanien und Frankreich
Draghis Vorschläge wurden jedoch von anderen wichtigen Mitgliedsstaaten unterstützt.
Bernard Guetta, ein Europaabgeordneter der liberalen Renaissance-Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, lobte den „französischen Ansatz“ des Berichts, „Tabus in Bezug auf gemeinsame Verteidigung, Industriepolitik und gemeinsame Schulden aufzugeben.“
„Es ist absolut notwendig, die Mitgliedsstaaten, das Europäische Parlament und die zukünftige Kommission aufzufordern, die Idee der Industriepolitik und der gemeinsamen Investitionen vollständig anzunehmen“, sagte er gegenüber Euractiv.
Guetta forderte auch Mitgliedstaaten wie Deutschland und die Niederlande auf, „ihre Augen zu öffnen und ihre Ideologie“ bezüglich der gemeinsamen Kreditaufnahme zu beenden.
Er räumte jedoch ein, dass Frankreich, „nicht das am besten platzierte Land ist, um dieses Narrativ zu verbreiten und andere Mitgliedsstaaten zu überzeugen“. Anfang des Jahres wurde Frankreich von der Europäischen Kommission wegen seiner hohen öffentlichen Ausgaben formell gerügt.
„Es ist absolut richtig, dass Frankreich nicht der glaubwürdigste Mitgliedsstaat ist, um über eine gemeinsame EU-Finanzierung zu sprechen, da seine eigenen öffentlichen Finanzen im Minus sind.“
Der spanische Finanzminister Carlos Cuerpo, dessen Land zu den Hauptempfängern vom Corona-Wiederaufbaufonds gehört, schloss sich Guettas Zustimmung zu Draghis Kernvorschlägen an.
„Wie Draghi sind auch wir der Meinung, dass ein Teil der erforderlichen Finanzierung notwendigerweise von der EU-Ebene kommen wird. Wir teilen die dringende Notwendigkeit, auf ein dauerhaftes gemeinsames EU-Schuldenprogramm hinzuarbeiten“, erklärte er gegenüber der Financial Times.
*Théo Bourgery-Gonse und Nick Alipour trugen zur Berichterstattung bei
[Bearbeitet von Owen Morgan/Kjeld Neubert]