Während sich Europa auf eine umfassende Aktualisierung seiner Wettbewerbs-, Industrie- und Handelspolitik vorbereitet, warnen Experten und Vertreter des Privatsektors vor dem von Frankreich und Deutschland vorgeschlagenen staatlichen Interventionismus.
„Eine starke wirtschaftliche Basis ist für Europas Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sowie für seine Rolle in der Welt von entscheidender Bedeutung,“ heißt es in der strategischen Agenda der EU für die kommenden fünf Jahre, die am 20. Juni von den Staats- und Regierungschefs der EU gebilligt wurde.
Bisher gibt es aber kein Patentrezept, wie sogenannte „europäische Champions“ geschaffen werden könnten, die im Wettbewerb mit amerikanischen und chinesischen Konzernen bestehen können. Das stellten Analysten und Vertreter diverser Verbände auf einer von EURACTIV organisierten Veranstaltung am 19. Juni fest.
Es brauche eine umfassende Strategie, die verschiedene Politikbereiche abdeckt und auch die unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitgliedstaaten und Sektoren berücksichtigt. Der globale Druck dürfe jedoch nicht zu einer grundlegenden Neuordnung der EU-Wettbewerbsregeln führen, wie es Frankreich und Deutschland im vergangenen Februar vorgeschlagen hatten.
Der deutsch-französische Plan sah vor, dass die Staats- und Regierungschefs die Befugnis haben würden, die Kartellentscheidungen der Europäischen Kommission zu ändern – eine der wenigen exklusiven Zuständigkeiten, die die EU-Exekutive hat.
Der Vorschlag fand aber keine Unterstützung in den Mitgliedstaaten und wurde auch von Industrieunternehmen kritisiert. Die Idee stelle „eine totale Kehrtwende gegenüber der bisherigen deutschen Industriepolitik“ dar, sagte beispielsweise Holger Kunze, der Leiter des Europabüros des Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA).
Berlin sei immer ein entschiedener Befürworter des Freihandels und des Binnenmarkts gewesen – vor allem, um neue Geschäftsmöglichkeiten für sein robustes System aus innovativen mittelständischen Unternehmen zu schaffen.
Als der Aufstieg chinesischer Unternehmen immer deutlicher wurde, habe Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier Anfang des Jahres hingegen vorgeschlagen, es müsse in Europa weniger Wettbewerb geben, damit europäische Unternehmen im Ausland wettbewerbsfähig bleiben können.
Kunze erklärte in dieser Hinsicht, in Deutschland gebe es bereits rund 1.300 „Hidden Champions“, die an den Folgen einer Umgestaltung der EU-Kartellvorschriften leiden könnten. Dies gilt insbesondere, wenn durch staatliche Interventionen riesige „European Champions“ durch Fusionen entstehen.
Johan Bjerkem, Analyst im European Policy Centre, erinnerte daran, dass die Idee einer Neugestaltung der EU-Wettbewerbsregeln keine neue Debatte in Frankreich und Deutschland sei. Auch wenn der Vorschlag zur Einschränkung der Befugnisse der Kommission nicht umgesetzt werden sollte, seien dennoch viele Mitgliedstaaten offen dafür, die Regeln angesichts der Konkurrenz aus dem Silicon Valley und in Form der staatlich unterstützten Unternehmen Chinas zu „aktualisieren“.
In der von den Staats- und Regierungschefs der EU gebilligten strategischen Agenda heißt es dazu, man wolle einen „integrierten Ansatz“ schaffen, „mit dem den aktuellen und neuen globalen und technologischen Herausforderungen“ begegnet wird.
Der Wettbewerb ist dabei ein wichtiger Bestandteil des Pakets, aber nicht der einzige: „Es muss ein umfassendes Maßnahmepaket sein,“ glaubt auch Bjerkem. So müssten im Bereich internationaler Handel die unlauteren Praktiken aus dem Ausland bekämpft sowie der Marktzugang (für europäische Firmen) erleichtert werden.
Paul Csiszár, Direktor der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission, stimmte zu, die Wettbewerbspolitik der EU könne überdacht werden. Allerdings müsste Europa sich stets bezüglich der möglichen Effekte einiger Handelsschutzinstrumente, die zur Bekämpfung unlauterer Praktiken eingesetzt werden, im Klaren sein.
„Rund 30 Millionen Arbeitsplätze hängen von wettbewerbsfähigen Stahlpreisen ab,“ warnte er beispielsweise und bezog sich dabei auf die Zölle, die aktuell zur Bekämpfung des Stahldumpings erhoben werden.
Das Bild werde noch komplexer, da die Mitgliedstaaten auch unterschiedliche Bedürfnisse haben.
„Es geht nicht nur um Deutschland und Frankreich, wir sprechen über 28 Mitgliedsstaaten – und wir haben unterschiedliche Situationen,“ sagte auch Luis Colunga, stellvertretender Generalsekretär der Gewerkschaftsföderation IndustriAll.
Er forderte, die EU müsse eine „klare und umfassende“ Strategie für alle Mitgliedstaaten und alle Sektoren vorlegen.
Aus Sicht der Teilnehmenden an der EURACTIV-Veranstaltung gibt es nicht die eine „Wunderwaffe“, um den Erfolg europäischer Firmen im internationalen Wettbewerb zu sichern.
Ein Punkt sei aber definitiv wichtig: Der Erfolg muss auf den Möglichkeiten basieren, die der Binnenmarkt bietet, um zu expandieren und zu wachsen – „und auf Forschung und Entwicklung“, so Kunze.
An diesen beiden Fronten hat Europa noch viel Raum für Fortschritte: Der Binnenmarkt ist in vielen Bereichen nach wie vor unvollständig und die Investitionen der EU im Bereich Forschung und Entwicklung (rund zwei Prozent des BIP) liegen weit hinter den globalen Spitzenreitern, allen voran Südkorea (mit 4,5 Prozent des BIP).
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]