Zwar setzt sich das EU-Lieferkettengesetz hauptsächlich das Ziel, die Menschenrechte global zu stärken, gleichzeitig hat es aber auch eine strategische Note. Denn im internationalen Systemwettbewerb kann es helfen, europäische Standards selbst in autokratischen Staaten durchzusetzen, so Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Interview mit EURACTIV.
Hubertus Heil ist seit dem 14. März 2018 Bundesminister für Arbeit und Soziales der Bundesrepublik Deutschland.
Das Thema Lieferketten stand bereits während der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 ganz oben auf der Agenda. In den anstehenden Verhandlungen auf EU-Ebene wird sich Deutschland hierbei für ein möglichst weitgehendes Gesetz aussprechen, selbst in Bereichen, die über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgehen.
Gleichzeitig begrüßt die Bundesregierung auch ausdrücklich die Verabschiedung der EU-Mindestlohnrichtlinie, obwohl gerade Deutschland in manchen Bereichen noch einiges nachzuholen hat.
Interview Highlights:
- Durch das EU-Lieferkettengesetz wird unter anderem versucht, europäische Standards in autokratischen Staaten durchzusetzen und ist Teil einer strategischen Wirtschafts- und Industriepolitik
- Europa will für andere Wirtschaftsräume mehr Verantwortung übernehmen.
- Das neue EU-Lieferkettengesetz soll möglichst mittelstandsfreundlich sein, gleichzeitig unterstützt Deutschland aber auch jene Teile des EU-Entwurfs, die über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgehen.
- Unterstützt wird auch die Erweiterung der zivilrechtlichen Möglichkeiten bei Menschenrechtsverletzungen vor deutschen und anderen europäischen Gerichten zu klagen.
- In Bezug auf die Umsetzung der Mindestlohnrichtlinie erfüllt Deutschland zwar bereits die Regelungen für den Mindestlohn, allerdings gibt es noch deutlichen Aufholbedarf beim Thema Tarifbindung.
- Um die Anzahl an Tarifverträgen zu erhöhen, wird die Bundesregierung in Verhandlungen mit Gewerkschaften und Arbeitgebern treten.
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Das deutsche sowie europäische Lieferkettengesetz war Ihnen ja immer ein besonders wichtiges Anliegen. Die Verhandlungen auf EU-Ebene stehen ja noch an. Was sind denn aus Ihrer Sicht die wesentlichen Punkte bei den Verhandlungen und was wünschen Sie sich von dem Gesetz?
Wir unterstützen den Vorschlag der Kommission, weil wir glauben, dass Europa gemeinsam als Wirtschafts- und Sozialmodell beweisen kann, dass Werte und Wertschöpfung keine Gegensätze sind. Daneben ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass wir in internationalen Lieferketten unseren Wohlstand und unsere Handelsbeziehungen nicht auf Kinder- oder Zwangsarbeit aufbauen. Mit unserem deutschen Lieferkettengesetz haben wir Pionierarbeit geleistet. Wir wollen, dass es auch in Europa für Unternehmen übersichtliche Regeln und ein level playing field gibt.
Und wir halten es für notwendig, nachdem man jahrelang auf Freiwilligkeit gesetzt hat, jetzt einen Rechtsrahmen zu etablieren, mit dem wir verbindliche Regeln für alle aufstellen, die auch praktisch umsetzbar sind.
Das deutsche Lieferkettengesetz wird ja, gemeinsam mit dem französischen, oft als Blaupause für Europa bezeichnet. Gibt es hier gewisse Bereiche, wo sie sagen, das sollte auf europäischer Ebene anders gemacht werden, als beim deutschen Lieferkettengesetz?
Ich glaube, dass wir eine Chance haben, nicht nur gemeinsame Regeln zu entwickeln, sondern auch den Zugang zu zivilrechtlicher Entschädigung für Betroffene zu stärken. Nach internationalem Recht haben Menschen, die durch ein europäisches Unternehmen in ihren Menschenrechten verletzt worden sind, auch das Recht, vor europäischen Gerichten zu klagen. Aber in der Praxis ist dies ein hochkomplexes Unterfangen, weil nach den Regeln des Internationalen Privatrechts das Recht des Landes gilt, in dem der Schaden eingetreten ist.
Wird etwa eine pakistanische Textilarbeiterin in ihren Rechten durch ein deutsches Unternehmen verletzt, kann sie zurzeit nur nach pakistanischem Recht vor deutschen Gerichten klagen. Der Vorschlag der Kommission will das ändern. Künftig könnte die Textilarbeiterin vor deutschen Gerichten nach deutschem Schadensersatzrecht klagen. Das verbessert ihren Zugang zu rechtlicher Abhilfe enorm und ist ein wichtiger Fortschritt.
Zweitens rücken wir neben den menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten auch die ökologischen Folgen des Wirtschaftens stärker in den Fokus, in dem wir die umweltbezogenen Sorgfaltspflichten deutlich ausweiten wollen. Ich und die gesamte Bundesregierung wollen, dass diese Richtlinie zu einem Erfolg wird für Europa.
In vielen Bereichen geht der Vorschlag zum europäischen Lieferkettengesetz ja über das deutsche hinaus – insbesondere was die Schwellenwerte für die Anwendbarkeit des Gesetzes betrifft. Wird dieser Ansatz unterstützt oder arbeitet man aus deutscher Sicht auf die Schwellenwerte hin, die auch im deutschen Lieferkettengesetz verankert sind?
Wir wollen, dass das neue Lieferkettengesetz mittelstandsfreundlich ist und von Unternehmen nicht Dinge verlangt werden, die sie nicht erfüllen können. Uns geht es darum, dass wir einen wirksamen Rechtsrahmen entwickeln.
Spielt dieses neue Lieferkettengesetz denn auch in die Ambitionen der Europäischen Kommission, die europäische Souveränität zu stärken und Lieferketten resilienter zu machen, hinein? Oder appelliert dieses Gesetz eher an das europäische Wertefundament und die Verantwortung Europas in der Welt?
Es geht um beides. Wir sehen, dass Lieferketten wegen Putins Angriffskrieg derzeit sehr fragil sind. Deshalb müssen wir in Europa durch eine strategische Wirtschafts- und Industriepolitik dafür sorgen, dass wir souverän sind. Wir realisieren aber auch, dass Wirtschaftsräume, die politische Werte teilen, enger zusammenarbeiten müssen, zum Beispiel in der Energiepolitik. Europa muss gegenüber anderen Wirtschaftsräumen in der Welt Verantwortung übernehmen. Gerade das deutsche, aber auch das europäische Lieferkettengesetz ist von diesem Ansatz getragen.
Gibt es denn ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen dem Versuch, Lieferketten zu diversifizieren und gleichzeitig nachhaltiger und wertebasierter zu gestalten?
Nein, wenn man das vernünftig macht, ist das kein Gegensatz, sondern bedingt einander. Wir wollen ja keinen Protektionismus betreiben oder den Welthandel zurückdrehen, sondern es geht darum, vernünftige Grundlagen zu schaffen.
Das Ziel ist, einen freien und gleichzeitig fairen Handel zu gewährleisten. Dazu gehören transparente Wertschöpfungsketten, vernünftige Handelsverträge, die dauerhaft gute wirtschaftliche Beziehungen ermöglichen, das Einhalten von fundamentalen Menschenrechten und internationalen Übereinkommen sowie die Gewährleistung von ökonomischen Standards.
Sie haben die strategische Note des Lieferkettengesetzes ja bereits angesprochen. Spielt das denn auch im internationalen Wettbewerb der Systeme eine Rolle, oder geht es hier primär um Werte?
Es ist beides. Europa ist mehr als ein Binnenmarkt, sondern eben auch eine politische Gemeinschaft mit Werten, die versucht, Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaatlichkeit miteinander zu verbinden. Wir wissen, dass wir politisch und wirtschaftlich in einer Systemkonkurrenz zu anderen Staaten stehen.
Gerade bei der Frage, wie wir mit anderen Wirtschaftsräumen, in Südamerika, Afrika oder in Asien umgehen, sind wir herausgefordert. Wir haben die Aufgabe, faire Partnerschaften mit gegenseitigem Nutzen aufzubauen und nicht die Augen vor Zwangsarbeit und Kinderarbeit zu verschließen.
Das geplante europäische Lieferkettengesetz wird uns dabei helfen, denn außereuropäische Unternehmen fallen ebenfalls unter den Anwendungsbereich. Auf diese Weise werden auch Unternehmen autokratischer Staaten verpflichtet, sich an unsere Standards zu halten, wenn sie in der EU Geschäfte treiben wollen.
Noch zu einem anderen Thema. Die Mindestlohnrichtlinie wurde ja jüngst auf den Weg gebracht. Nur noch die Zustimmung des Rates steht aus. Was muss Deutschland dann hier ändern, um sich an die Mindestlohnrichtlinie anzupassen?
Erst einmal mal bin ich sehr froh, dass sie zustande kommt. Die Mindestlohnrichtlinie war in der Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft neben dem Thema Lieferketten ein zentrales Anliegen, das wir entscheidend vorangebracht haben.
Was heißt das jetzt für Deutschland? Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Denn in wenigen Tagen, am 1. Oktober, erhöhen wir den Mindestlohn in Deutschland auf 12 Euro. Das entspricht der europäischen Richtlinie, die einen Richtwert von 60 Prozent des mittleren Einkommens vorgibt.
Beim Thema Tarifbindung haben wir allerdings noch Nachholbedarf, da die Richtlinie vorsieht, dass Mitgliedstaaten bei einer Tarifbindung von weniger als 80 Prozent nationale Maßnahmen ergreifen müssen. Wir sind in Deutschland bei 51 Prozent.
Was müsste denn hier getan werden?
Um die Tarifbindung zu stärken, wollen wir als Bundesregierung zum Beispiel dafür sorgen, dass öffentliche Aufträge des Bundes nur noch an Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen.
Ich bin überzeugt davon, dass uns die Richtlinie Rückenwind für mehr Tarifabschlüsse und eine bessere Tarifbindung in Europa, aber auch in Deutschland geben wird.
Denn Mindestlöhne stellen immer nur eine absolute Lohnuntergrenze dar.
Wird es hier eine Art Aktionsplan für die Umsetzung geben?
Dass Gewerkschaften und Arbeitgeber autonom Lohn- und Arbeitsbedingungen verhandeln, ist ein hohes Gut in Deutschland. Deshalb werden wir mit ihnen darüber reden, was sie tun müssen, um die Tarifbindung in Deutschland zu stärken. Wir als Staat werden hierfür die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen.