Europa solle aufhören, „naiv“ zu sein und seine Anstrengungen zur Unterstützung seiner schwächelnden industriellen Basis verstärken, so die neu gewählte Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im EU-Parlament. Nur so könne Europa weiter mit China und den Vereinigten Staaten konkurrieren.
Die im Juli zur Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses im EU-Parlament ernannte Aurore Lalucq (Frankreich, S&D) warnte im Interview mit Euractiv, dass die von Washington und Peking verfolgten staatlich gelenkten Industriestrategien Europa ernsthaft in Gefahr brächten, „ein Kontinent der Verbraucher“ statt der Hersteller zu werden.
„Die Welt hat sich verändert; wir erleben nicht länger eine ‚glückliche Globalisierung‘. Die USA verteidigen ihre Wirtschaft. Auch China verteidigt seine Wirtschaft. Und wir müssen das Gleiche tun“, sagte Lalucq, die zusammen mit Raphaël Glucksmann Co-Vorsitzende der Mitte-Links-Partei Place Publique ist.
„Es geht nicht darum, per se protektionistisch zu sein. Wir müssen nur aufhören, so naiv zu sein“, fügte sie hinzu.
Lalucq erklärte, dass Europa im Gegensatz zu den USA und China derzeit keine übergreifende „Strategie“ zur Unterstützung grüner und digitaler Unternehmen und zur Förderung wichtiger öffentlicher Investitionen habe.
„[Die USA und China] haben ihre Strategie. Und dann zögern sie nicht, alle ihnen zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen Instrumente einzusetzen [, um ihre Ziele zu erreichen][…]. Und das ist es, was wir auch auf europäischer Ebene tun müssen“, führte sie weiter aus.
Aktuell wächst die Besorgnis über den Zustand der europäischen Wirtschaft: Produktivitätsrückstände, schwache Investitionen und hohe Energiepreise tragen dazu bei, dass die EU-Wachstumsrate hinter der USA und Chinas zurückfällt.
Zur gleichen Zeit nehmen auch die globalen Handelsspannungen weiter zu. Die Kommission bestätigte letzten Monat vorläufige Zölle von bis zu 36,3 Prozent auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge – eine Entscheidung, die Pekings Antidumping-Verfahren gegen EU-Milchprodukte auslöste.
Lalucq befürwortete jedoch die Entscheidung der EU-Kommission. Denn es könne in den Handelsbeziehungen zwischen den führenden Volkswirtschaften der Welt „immer zu Spannungen“ kommen.
„Die Frage ist: Wollen wir ein Kontinent der Verbraucher sein, oder wollen wir einer der Hersteller sein? Wenn wir nur passive Verbraucher bleiben wollen, dann sollten wir keine Zölle erheben. Aber dann ist es für uns vorbei.“
Draghis zweifelhafte Vorschläge
Lalucqs Äußerungen folgen auch auf die Veröffentlichung des mit Spannung erwarteten Berichts von Mario Draghi über die EU-Wettbewerbsfähigkeit. Darin warnte er davor, dass die EU derzeit vor einer „existenziellen Herausforderung“ durch China und die USA stehe.
Zwar lobte Lalucq die „genaue Diagnose“ des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und früheren EZB-Präsidenten über die derzeitige Wettbewerbsfähigkeit Europas, jedoch sie äußerst kritisch über viele der spezifischen politischen Vorschläge des Berichts. Darunter auch die Andeutung, dass die Solarmodulindustrie „zu weit zurückgefallen“ sein könnte, um durch Zölle wirksam geschützt zu werden.
„Es ist nie zu spät. Es ist eine politische Entscheidung. Ehrlich gesagt ist die Situation [zum Schutz der europäischen Solarmodulindustrie] nicht einfach, aber wir müssen trotzdem alles tun, was notwendig ist, um unsere Autonomie zu bewahren“, sagte sie.
Lalucq, Wirtschaftswissenschaftlerin, die an der Sorbonne studiert hat, wandte sich auch gegen Draghis wiederholte Betonung der Notwendigkeit einer Deregulierung großer Teile der europäischen Wirtschaft, einschließlich des Bankensektors.
„Wenn es um die Regulierung des Bankensektors geht, wäre es ein Fehler zu deregulieren“, sagte sie. Dabei fügte sie hinzu, dass solche Maßnahmen auch der Wettbewerbsfähigkeit Europas schaden könnten, weil „eine Banken- oder Finanzkrise die gesamte Wirtschaft gefährden kann, was für niemanden gut ist.“
Kapitalmarktunion: Kein Allheilmittel
Kritik übte Lalucq auch an der zunehmenden Betonung der Kapitalmarktunion (CMU) durch die europäischen Politiker als Hauptmechanismus zur Finanzierung des grünen und digitalen Wandels.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin bezweifelte nicht nur, dass eine vollständig integrierte Kapitalmarktunion in der Lage wäre, „alles zu finanzieren, was wir finanzieren müssen“. Sie stellte auch fest, dass es unter den Mitgliedstaaten große politische Widerstände gebe, die überwunden werden müssten. Dies muss passieren, bevor die Kapitalmarktunion vollständig integriert werden könne.
Sie verwies insbesondere auf die erheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten über den Vorstoß der EU, die Finanzaufsicht zu zentralisieren sowie auf die weit verbreitete Ablehnung der Harmonisierung von Steuer- und Insolvenzgesetzen.
„Ich bin nicht gegen die Idee einer Kapitalmarktunion. Sie könnte nützlich sein, um neue Ressourcen zu finden. Aber es würde bedeuten, dass so viele Hindernisse überwunden werden müssten, nur um sie umsetzen zu können“, sagte Lalucq.
Eine vollständig integrierte Kapitalmarktunion wäre auch „keine Wunderlösung für unseren Investitionsbedarf“, fügte sie hinzu.
„Irgendwann werden wir auf öffentliche Gelder zurückgreifen müssen, wenn wir das Investitionsniveau erreichen wollen, das für den grünen und digitalen Wandel erforderlich ist.“
Die Europäische Kommission schätzt, dass eine vollständig integrierte Kapitalmarktunion zusätzliche private Finanzmittel in Höhe von 470 Milliarden Euro pro Jahr generieren würde. Das wäre mehr als die Hälfte der von Draghi vorgeschlagenen zusätzlichen jährlichen Investitionen in Höhe von 800 Milliarden Euro.
Finance Watch, eine unabhängige Nichtregierungsorganisation, erklärte, dass die Kommission die Höhe der privaten Finanzmittel, die durch die Kapitalmarktunion generiert werden könnten, wahrscheinlich überschätzt hat. Draghi hingehen könnte den gesamten Investitionsbedarf Europas um etwa 400 Milliarden Euro unterschätzt haben.
[Bearbeitet von Daniel Eck/Kjeld Neubert]