Christine Lagarde hat am gestrigen Mittwoch angekündigt, mit „Agilität“ auf die sich abzeichnenden finanziellen und wirtschaftlichen Turbulenzen zu reagieren, sobald sie im November Präsidentin der Europäischen Zentralbank wird. Sie bestätigte jedoch auch, dass die gegenwärtige lockere Geldpolitik wohl für einen „langen Zeitraum“ anhalten wird.
In seiner Rede vor dem Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments betonte die scheidende Direktorin des Internationalen Währungsfonds, dass die Preisstabilität auch in Zukunft der „Hauptanker der EZB“ sei.
Sie deutete jedoch die Möglichkeit weiterer „unkonventioneller Maßnahmen“ an, um auf das sich verschlechternde Wirtschaftsklima zu reagieren. Dies sei abhängig von der Kostenanalyse diverser möglicher geldpolitischer Instrumente. „Die Bewertung muss kollegial erfolgen,“ betonte sie unter Bezugnahme auf den 25-köpfigen EZB-Regierungsrat, den sie ab dem 1. November leiten wird.
In diesem Zusammenhang verwies sie auch auf die laufende Diskussion innerhalb der EZB über die mögliche Revision ihres Primärziels einer Inflation unter, aber nahe zwei Prozent.
Lagarde fügte hinzu, dass nicht nur die EZB, sondern auch die Zentralbanker auf der ganzen Welt ihre geldpolitischen Konzepte in einer Kosten-Nutzen-Analyse klarstellen sollten. Der Kampf gegen die „Lowflation“ (dt. etwa: „Niedriginflation“, ein von Lagarde geprägter Begriff) sei seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 eine Priorität geworden.
Eine solche Überprüfung würde den Zentralbankern mehr Spielraum geben, ihre Wirtschaft in Zeiten wachsender Unsicherheiten aufgrund des Handelskrieges der USA, des Brexits oder der insgesamt angeschlagenen multilateralen Zusammenarbeit zu stärken.
Flexibilität und grüne Investitionen
Lagarde versicherte, dass sie an ihrem Arbeitsauftrag festhalten, aber auch „die Agilität nutzen werde, sich an die Welt anzupassen, wenn sie sich um uns herum verändert“.
Sie betonte, dass die derzeitige „sehr entgegenkommende Haltung“ [in Sachen Zinsen] des EZB-Rates wohl noch für einen „langen Zeitraum“ gerechtfertigt sei. Doch auch wenn die Nettovorteile der expansiven geldpolitischen Maßnahmen offensichtlich seien, müsse man sich „der negativen Folgen bewusst“ sein. Damit versuchte Lagarde offensichtlich, die Kritik von Sparern und Rentnern in einigen Ländern, insbesondere in Deutschland, zu entschärfen.
Wie sie bereits in ihren schriftlichen Antworten an den zuständigen Ausschuss des EU-Parlaments angedeutet hatte, betonte sie gestern erneut, dass der Kampf gegen die globale Erwärmung während ihrer Amtszeit eine Priorität sein werde. In diesem Zusammenhang sagte sie, dass die EZB ihr 2,6 Billionen Euro schweres Kapital zwar nicht ausschließlich in grüne Anleihen investieren könne – allein schon, weil das Angebot begrenzt sei – aber die Bank könne zumindest signalisieren, wohin ihre Mittel fließen sollen.
Inklusivität und Bürgernähe
Darüber hinaus versprach Lagarde eine „inklusivere“ EZB, indem ein „starker und lebendiger Dialog“ mit der Zivilgesellschaft gefördert werden soll, um damit die Beratungen zu verbessern: „Die EZB muss auf die Märkte, aber auch auf die Menschen hören und sie verstehen.“
Vor diesem Hintergrund argumentierte sie, sie selbst werde bei der Kommunikation zukünftiger geldpolitischer Entscheidungen wichtig sein: Die Bürgerinnen und Bürger müssten diese Entscheidungen verstehen, indem eine klare und deutliche Sprache verwendet wird, ohne die weit verbreiteten Abkürzungen und dem von Regulierungsbehörden und Entscheidungsträgern im EU-Bereich immer wieder verwendeten Fachjargon.
Sie warnte jedoch auch, dass selbst die „allmächtige“ Führung der EZB alleine nicht ausreichen werde, um die anstehenden Herausforderungen – von Brexit bis zum US-Handelskrieg – zu bewältigen.
Bei Fragen nach Inklusivität und der Allmacht der EZB kommt das „whatever it takes“ vom Lagardes Vorgänger Mario Draghi im Jahr 2012 in den Sinn. Sein Ausspruch gilt als Wendepunkt in den Bemühungen zur Überwindung der Eurokrise. Lagarde erklärte diesbezüglich, sie hoffe, nicht in eine ähnliche Situation zu geraten. Ungeachtet dessen habe sie den nationalen Regierungen der EU-Staaten aber bereits deutlich gemacht, dass sie Verantwortung übernehmen müssen, um eine nächste Krise abzuwenden.
Investitionen und Eurozonen-Regeln
In Übereinstimmung mit früheren Botschaften aus Frankfurt sagte Lagarde, dass mehr Eurozonenmitglieder nun ihren Finanz-Spielraum für den Aufbau von Breitbandnetzen und anderen Infrastrukturmaßnahmen nutzen sollten. Dies könne dabei helfen, einen neuerlichen Wirtschaftsabschwung zu vermeiden. „Sicherlich gibt es nicht viel Spielraum… Aber es gibt Spielraum“, betonte sie mit Verweis auf die geringen Staatsdefizite vieler Staaten.
Allen voran Deutschland, aber auch die Niederlande, Österreich, Irland, Finnland, die Slowakei, Slowenien und die baltischen Staaten gehören zu den Ländern mit einem solchen deutlichen fiskalpolitischen „Spielraum“, um ihre Wirtschaft anzukurbeln.
Darüber hinaus sollten die nationalen Regierungen ihre Strukturreformen „beim aktuellen Sonnenschein“ abschließen, wiederholte Lagarde. Sie beklagte in dieser Hinsicht, der Reformdruck in vielen Ländern gehe kaum über (leere) Versprechungen hinaus.
Was die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion betrifft, so folgte sie ebenfalls Draghis früheren Bemerkungen: Die Bankenunion solle mit einem Europäischen Einlagensicherungssystem zum Schutz der Sparer in ganz Europa vervollständigt werden. Außerdem müsse ein fiskalpolitischer „Puffer“ eingefügt werden, um die Volkswirtschaften vor plötzlichen Konjunkturschocks zu schützen.
Lagarde begrüßte die Vereinbarung der Mitgliedstaaten, ein Haushaltsinstrument zur Unterstützung der Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz des Euroraums als „Embryo“ einer solchen Finanzkapazität zu schaffen.
Einige nord- und westeuropäische EU-Länder, vor allem die Niederlande, sind hingegen gegen weitere Steuertransfers. Sie werfen anderen Eurozonen-Mitgliedern wie Italien vor, gegen die Fiskalregeln des Währungsgebiets verstoßen zu haben.
Lagarde wies auch darauf hin, welche Bedeutung neue Digitaltechnologien während ihrer Amtszeit haben dürften. In diesem Zusammenhang differenzierte sie zwischen dem umstrittenen „Digital Asset“ Libra von Facebook und anderen hochvolatilen Kryptowährungen: Sogenannte „stabile Coins“ wie Libra seien „eine andere Sache“ als Kryptogüter.
Sie betonte jedoch, dass auch diese Coins jetzt und in Zukunft „in voller Übereinstimmung“ mit allen Vorschriften sein müssten.
Die zuständigen Regulierungsbehörden sollten vor allem sicherstellen, dass Kryptowährungen und Coins nicht für Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung verwendet werden.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]