Ein deutsches „Non-Paper“ zur Reform der europäischen Schuldenregeln ist auf heftige Reaktionen von Ökonomen gestoßen. Der grüne Europaabgeordnete Rasmus Andresen verteidigt das Papier jedoch.
Das Papier der Ampel-Koalition, das letzte Woche an die EU-Kommission verschickt wurde, kommt im Vorfeld eines Gesetzesvorschlags der Kommission zur Reform der EU-Schuldenregeln.
Die Reform des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakts zielt darauf ab, die Regeln für die öffentlichen Finanzen realistischer und durchsetzbarer machen. Ein Gesetzesvorschlag wird noch in diesem Monat erwartet.
In ihrem Papier schlägt die Bundesregierung ein Mindestziel für den jährlichen Schuldenabbau („gemeinsame Absicherung“) von 1 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes für hoch verschuldete Länder wie Italien und 0,5 Prozent für mittelmäßig verschuldete Länder wie Österreich vor.
Bei Ökonomen war der Vorschlag auf heftige Kritik gestoßen. Aus den Reihen der Ampel-Europaabgeordneten wird er jedoch verteidigt.
„Ich lese es als eine Öffnung der deutschen Position“, so der grüne Europaabgeordnete Rasmus Andresen gegenüber EURACTIV.
Zwar halte die Bundesregierung „im Grundsatz“ am Stabilitäts- und Wachstumspakt fest, „allerdings beschreibt es für grüne Investitionen und im Vergleich zur jetzigen Ausgestaltung der Regeln auch beim Defizitabbau ein paar Öffnungen, die notwendig sind“, so Andresen weiter.
Auch der SPD-Europaabgeordnete René Repasi (S&D) bezeichnete den Vorschlag als ein „Echo“ des alten Stabilitäts- und Wachstumspakts.
Die Vergangenheit habe aber gezeigt, dass der Ansatz, in der Krise zu sparen, „überholt“ sei, sagte er gegenüber EURACTIV.
„Im Krisenfalls müsste eine Regel, wie im deutschen Non-Paper, wieder ausgesetzt werden“, so Repasi. Genau dies wolle man mit der Reform der Schuldenregeln eigentlich vermeiden.
Heftige Kritik von Ökonomen
Sollte der deutsche Vorschlag umgesetzt werden, wäre dies „katastrophal“, hatte der französische Wirtschaftswissenschaftler Olivier Blanchard auf Twitter geschrieben und fügte hinzu, dass er „zur schlimmsten Form der prozyklischen Finanzpolitik“ führen würde.
Das würde bedeuten, dass ein von einer Wirtschaftskrise betroffenes Land seine öffentlichen Ausgaben drastisch kürzen müsste, was die Situation noch verschlimmern könnte, erklärt Carl Mühlbach von FiscalFuture, einer deutschen NGO, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Finanzpolitik mit den Interessen der jungen Generation in Einklang zu bringen.
„Wenn wir in einer konjunkturell schlechteren Phase sind, dann reduziert sich ja das Bruttoinlandsprodukt, und dementsprechend steigt die Schuldenquote an“, so Mühlbach gegenüber EURACTIV.
„Wenn man dann die Schuldenquote trotzdem noch drücken möchte, ist man gezwungen, eine enorme Sparpolitik zu betreiben“, fügte er hinzu.
„Das löst das Schuldenproblem nicht, sondern verschlimmert es, weil man dann riskiert, den Konjunktureinbruch oder die Rezession zu vertiefen“, sagte Mühlbach. „Also das, was wir in der Eurokrise hatten“, fügte er hinzu.
Repasi sagte, er würde nicht so weit gehen, den Vorschlag als „katastrophal“ zu bezeichnen, da dies auf der Annahme beruhen würde, dass das Ziel einer jährlichen Schuldenreduzierung von 1 Prozent eine „harte, ex post“-Verpflichtung sei.
„Das scheint zumindest nicht eindeutig so zu sein auf der Grundlage des Papiers, müsste aber klargestellt werde“, so Repasi.
Lindner bereits länger Kritiker der Reform der Schuldenregeln
Die Bundesregierung sieht die geplante Reform der EU-Schuldenregeln bereits seit längerem kritisch, da sie befürchtet, dass die Verpflichtungen zum Schuldenabbau gelockert werden könnten. Sie hat kürzlich darauf bestanden, die Mitgliedstaaten noch einmal einzubeziehen, bevor der Gesetzesvorschlag vorgelegt wird.
Nach der Reform sollten die EU-Regeln „zu einem (ausreichenden) Rückgang der hohen Schuldenquoten in jedem Jahr ab dem Beginn des reformierten Haushaltsrahmens führen“, heißt es nun. In diesem Sinne sollten die aktuellen Pläne der Kommission „geändert werden“, so das deutsche Papier.
Dies würde auch den Verzicht auf eine Anpassungsperiode von vier bis sieben Jahren bedeuten, die der Reformvorschlag der Kommission für die Mitgliedstaaten vorgesehen hatte. Erst danach müsste der Schuldenstand Jahr für Jahr reduziert werden. Dies soll den Mitgliedstaaten vorübergehend mehr Spielraum für Investitionen geben.
Die „wirkliche Meinungsverschiedenheit“ zwischen der Kommission und Berlin bestehe darin, ob die Schulden vom ersten Tag an reduziert werden müssten oder erst nach vier bis sieben Jahren, wie es die Kommission vorgeschlagen habe, sagte Sander Tordoir vom Centre for European Reform gegenüber EURACTIV.
„Ich glaube, Berlin will, dass die Schuldenquote bereits in den [ersten] vier Jahren sinkt“, sagte er. Angesichts der hohen Inflation und der „normalen“ Wachstumsraten wäre dies jedoch nicht unrealistisch.
„Wenn man sich in einer Phase höherer Inflation befindet und das Wachstum nicht großartig, aber in Ordnung ist, dann ist ein nominaler Schuldenabbau von einem Prozent der Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt machbar, ohne dass man überhaupt einen Sparkurs einschlagen muss“, so Tordoir.
Deutscher Vorschlag: Rote Linie oder Kompromissangebot?
„Alle stürzen sich auf [den deutschen Vorschlag], als ob die 1 Prozent eine Art rote Linie wären“, so Tordoir weiter.
„Aber wenn Sie das Papier lesen, gibt es eine Menge ‚könnte‘ und ‚könnte zum Beispiel sein'“, sagte er. Diese Sprache sei „explizit und absichtlich gewählt, um Offenheit für Diskussionen zu signalisieren“, glaubt Tordoir.
Nach seiner Interpretation würden sich die neuen Regeln auch nach Ansicht der Bundesregierung in erster Linie auf die „Nettoausgaben“ der Länder konzentrieren, was bedeutet, dass in Zeiten einer Wirtschaftskrise Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft trotzdem getätigt werden könnten.
Nachdem die nationalen Pläne entwickelt worden seien, „ist diese Ausgabenregel die führende Leitlinie“, so Tordoir. Das Ziel eines Schuldenabbaus von mindestens 1 Prozent pro Jahr sei daher in Wirtschaftskrisen dann nicht mehr das „entscheidende Kriterium“, sagte er.
Deutschland will gleiche Regeln für alle, keine individuellen Verhandlungen
In der Vergangenheit hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) kritisiert, dass die geplante Reform der EU-Kommission zu viel Spielraum bei der Aushandlung individueller Pläne mit den Mitgliedstaaten geben würde.
In seinem Non-Paper besteht Deutschland auf „gemeinsamen quantitativen Benchmarks und gemeinsamen Schutzmaßnahmen im finanzpolitischen Rahmen.“
„Die politische Realität ist, dass Berlin nicht darauf vertraut, dass die Kommission streng genug ist, um die Regeln durchzusetzen“, sagte Tordoir.
Deshalb besteht Berlin auf messbare Regeln und Zahlen, die für alle Mitgliedsstaaten gelten.
Dies habe jedoch den Nachteil, dass die individuelle Situation der Länder nicht berücksichtigt werden könne und viele Schätzungen über die künftige wirtschaftliche Entwicklung erforderlich seien, sagte Tordoir.
„Die Kodifizierung von Regeln ist sehr heikel, weil man nicht weiß, wie das wirtschaftliche Umfeld [in der Zukunft] aussehen wird“, sagte er und fügte hinzu, dass „wir eine Menge Schocks erlebt haben und sicherlich nicht wissen, wie es in fünf Jahren aussieht.“
Auch er sei aber kein Fan des Kommissionsvorschlags, da dieser eine „sehr schwache“ Durchsetzung der Regeln vorsieht.
Er würde daher einen „dritten Weg“ bevorzugen, sagte Tordoir, nämlich „der Kommission diesen Ermessensspielraum einzuräumen, aber ein viel robusteres Paket von Durchsetzungsinstrumenten zu haben“. Zum Beispiel könnte die Auszahlung von EU-Geldern von der Einhaltung der Fiskalregeln abhängig gemacht werden.
[Bearbeitet von János Allenbach-Ammann/Nathalie Weatherald]