Spitzenkandidaten-Debatte wird lebendiger

Von links nach rechts: Jan Zahradil (EKR), Nico Cué (Europäische Linke), Ska Keller (Grüne) - die Moderatoren Markus Preiß und Emilie Tran Nguyen - Margrethe Vestager (ALDE), Frans Timmermans (S&D) und Manfred Weber (EVP). [Emilie Gómez/European Parliament]

Die sechs Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der wichtigsten politischen Parteien haben am Mittwochabend ihre Vorstellungen von Europa präsentiert und sind in ihrer letzten im Fernsehen übertragenen Debatte vor den Europawahlen vor allem bei den Themen Arbeitsplätze und Klimawandel aneinandergeraten.

Auf der Bühne am Sitz des Europäischen Parlaments in Brüssel standen Manfred Weber (Europäische Volkspartei), Frans Timmermans (Sozialdemokratische Partei Europas), Jan Zahradil (Allianz der Konservativen und Reformer für Europa), Margrethe Vestager (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa), Nico Cué (Europäische Linke) und Ska Keller (Grüne).

Die sechs Kandidatinnen und Kandidaten tauschten sich eineinhalb Stunden lang auf Englisch aus, mit Ausnahme von Cué, der auf Französisch sprach.

Lasche erste Debatte zwischen den Spitzenkandidaten

Die ohnehin flaue Debatte wurde durch die Abwesenheit des EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber nur noch unterstrichen.

Hauptthemen waren dabei die Vorschläge zur Einführung eines europaweiten Mindestlohns und einer gemeinsamen Körperschaftssteuer, verstärkte Anstrengungen zur Senkung der CO2-Emissionen, die Frage, wie strengere Grenzkontrollen mit Solidarität in der Migration kombiniert werden können und wie Handel als Hebel zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Europa eingesetzt werden kann.

Eine progressive Koalition zur Bekämpfung des Klimawandels

Im Gegensatz zum bisher eher trockenen europäischen Wahlkampf waren die gestrigen Gespräche von teils leidenschaftlichen Debatten um Klimawandel und Beschäftigungspolitik geprägt.

Als Reaktion auf die großen Proteste der vergangenen Monate steht der Klimawandel erstmals ganz oben auf der Prioritätenliste im Europawahlkampf. Die Hauptfrage, die die Kandidatinnen und Kandidaten gestern Abend diskutierten, war dementsprechend auch nicht mehr, ob – sondern wie – man der globalen Erwärmung entgegentreten kann.

Mit Ausnahme von Zahradil schlossen sich dabei alle Parteien dem von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Ziel an, die CO2-Emissionen bis 2050 auf „Netto Null“ zu senken. Allerdings gab es deutliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wie dieses Ziel am besten erreicht werden könne.

Der Sozialdemokrat Timmermans zeigte sich in dieser Angelegenheit am angriffslustigsten und forderte eine Kerosinsteuer sowie eine CO2-Steuer für die gesamte europäische Wirtschaft. Der Spitzenkandidat rief außerdem erneut zu einer „progressive Koalition von Tsipras bis Macron“ auf. Damit könne sichergestellt werden, dass der Klimawandel ganz oben auf der Agenda der nächsten Kommission steht.

Hat unsere Gesellschaft Klimaklassen?

Reiche Menschen produzieren mehr CO2 als ärmere. Die wären auch besonders von einer CO2-Steuer betroffen. Trennt sich unsere Gesellschaft in Klimaklassen?

Nach monatelangem Zögern bestätigte auch der konservative Kandidat Weber seine Unterstützung für ein klimaneutrales Europa bis 2050. Er betonte, dies sei „unser gemeinsames Ziel“ und forderte einen gerechten Übergang für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von den notwendigen Veränderungen in der Wirtschaft und von der Energiewende betroffen sein werden.

Dies führte zu einer prompten Reaktion von Keller, die die bisherige „Ablehnung einer ehrgeizigeren Klimapolitik“ von Seiten der EVP während der laufenden Legislaturperiode verurteilte.

„Wissen Sie, was wirklich wehtun wird? Wenn wir weiterhin nichts tun,“ sagte auch Timmermans in Richtung Weber. Dieser versuchte vergeblich, dem Kreuzfeuer zu entgehen, indem betonte, die nächste EU-Kommission müsse den „globalen Kampf“ um Umweltfragen anführen. Dafür gab es weitere Kritik, dieses Mal von Cué: „Beginnen Sie doch mal in Europa, um Himmels willen!“

Wirtschaft und Mindestlohn

Der Klimawandel war nicht das einzige Thema, das zu einer hitzigen Debatte führte: Die europäische Wirtschaft hat sich nach der Finanzkrise nahezu vollständig erholt, aber die Arbeitslosenquote ist immer noch hoch. Um diesem Problem entgegenzutreten, forderte Timmermanns, das Bildungsprogramm Erasmus auszuweiten, die sogenannte Jugendgarantie zu stärken und einen europäischen Mindestlohn einzuführen.

Dieser letzte Vorschlag fand bei den Grünen, der Linken und sogar bei den Liberalen Anklang. Der linke Kandidat Cué stimmte zu: „Wir brauchen einen Mindestlohn, für den es sich lohnt, morgens aufzustehen.“

Für Weber ist die Antwort hingegen kein Mindestlohn, sondern „eine gute Wirtschaftspolitik, Infrastruktur, Forschung und Handel sowie die Schaffung eines noch stärkeren Binnenmarkts“.

Der EVP-Kandidat lobte den derzeitigen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker für seine Arbeit zur Stabilisierung der europäischen Wirtschaft und konfrontierte Timmermanns mit der Tatsache, dass einige derjenigen an der Spitze der Institutionen, die die Austeritätspolitik durchgesetzt haben, Sozialdemokraten seien.

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Timmermans, Keller und Vestager waren sich derweil auch bei der Forderung nach einer einheitlichen europäischen Körperschaftssteuer und der Vorantreibung einer vorgeschlagenen Digitalsteuer einig.

Gerade der Widerstand der Nationalstaaten könnte sich dabei jedoch als großes Hindernis erweisen. Der rechtskonservative Tscheche Jan Zahradil trat als deren Hauptanwalt auf: „Ich denke, dass Staaten das Recht haben, Unternehmen zu besteuern. Und die Europäische Union ist kein Staat.“

In einer ansonsten eher proeuropäisch geprägten Debatte war Zahradil der einzige Kandidat, der einen entschieden nationalistischen Ton anschlug und ein „verkleinertes, flexibles, dezentrales“ Europa forderte, das nationale Politiken unterstützt und keine neuen, europaweiten Gesetze „auferlegt“.

Sieger Timmermans, Vestager und Keller

Gemessen am Applaus im Saal können sich Frans Timmermans, Margrethe Vestager und Ska Keller als „Gewinner“ der Debatte sehen.

Aber: Sollten sich die aktuellen Meinungsumfragen über die Absichten der Wähler bestätigten und das Spitzenkandidaten-System von den EU-Staatschefs respektiert werden – was allerdings unwahrscheinlich ist – dann würde wohl Manfred Weber zum nächsten Kommissionspräsidenten ernannt.

Trotz sichtbarer Bemühungen, enstpannt zu wirken, zeigte sich der deutsche Konservative in der Debatte nervös und schien im Vergleich zu seinem Hauptgegner Frans Timmermans wenig Energie zu haben.

Auch der linke Kandidat Cué wirkte die meiste Zeit fehl am Platz. Als nationaler Gewerkschafter hatte er in der Runde auch die wenigsteErfahrung mit dem politischen System der EU. Indem er jedoch seine eigene Sprache – Französisch – sprach und eine persönliche Geschichte erzählte, gab er der Debatte auch ein menschliches Gesicht.

Cué ist ein belgischer Gewerkschafter. Seine spanischen Eltern waren vor dem Faschismus im Land geflohen. Sein Hauptziel für Europa sei „grenzüberschreitende Solidarität“, so Cué.

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Vestager, der zum ersten Mal auch an einer Debatte mit den anderen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten teilnahm, schien sich mit dem Format hingegen wohl zu fühlen: Während sie anfangs noch etwas zögerlich wirkte, fand sie schnell zu ihren Stärken. Eines der „Zitate der Nacht“ kann ihr zugeschrieben werden. So wich sie der Frage, ob die Niederlande, Irland, Belgien, Luxemburg oder Malta Steueroasen seien, geschickt aus und vermengt die englischen Begriffe Tax haven (Steueroase) und heaven (Himmel): „Für mich ist der Steuerhimmel ein Ort, an dem alle ihre Steuern bezahlen.“

Wahlaufruf und Unklarheit über rechtsextreme Parteien

Zum Abschluss forderten die Kandidaten die potenziellen 427 Millionen europäischen Wählerinnen und Wähler auf, zur Wahl zu gehen, „damit niemand außer Sie selbst für Sie entscheidet“. Weber rief dabei zu einem „Neustart in Europa“ auf; Keller wünschte sich „neue Hoffnung“ und Vestager warb vor allem mit einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis in den wichtigsten EU-Gremien.

In der gestrigen Debatte fehlten vor allem rechtsextreme und populistische Bewegungen, von denen erwartet wird, dass sie bei den Wahlen ausgesprochen gut abschneiden könnten.

Timmermans räumte in dieser Hinsicht ein, die aktuelle Führungsriege trage eine Mitschuld am Aufstieg der Populisten. Inzwischen habe sie aber ihre Lehren gezogen.

Darüber hinaus habe der Brexit negative Effekte für populistische Parteien gehabt, glaubt er: „Schauen Sie sich doch das Vereinigte Königreich heute. Das ist wie Game of Thrones auf Steroiden.“

[Bearbeitet von Frédéric Simon, Sam Morgan und Tim Steins]

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