Obwohl sie einen leidenschaftlichen Verteidiger Europas zum Präsidenten gewählt haben, lassen sich die französischen Bürgerinnen und Bürger für die Europawahlen kaum mobilisieren. Am 26. Mai treten insgesamt 33 Wahllisten gegeneinander an. EURACTIV Frankreich berichtet.
Es ist ein neuer Rekord: In der öffentlichen Bekanntmachung über die Teilnehmenden an der EU-Wahl durch das Innenministerium sind satte 33 Wahloptionen vermerkt. Doch wie in vielen europäischen Ländern wird wohl auch in Frankreich – trotz oder möglicherweise auch wegen dieser großen Auswahlmöglichkeiten – die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen niedrig ausfallen.
Der rasante Anstieg dieser Wahlmöglichkeiten und das Überangebot an Optionen lassen sich in das derzeitige Unbehagen der Französinnen und Franzosen übersetzen: Die Kluft zwischen politischen Parteien und dem Volk wird immer größer; neue extremistische Kandidatinnen und Kandidaten wittern ihre Chance. Tatsächlich kann nur knapp die Hälfte der Wahllisten als politisch „gemäßigt“ bezeichnet werden.
Bei der letzten Europawahl mit einem einzigen Wahlkreis in ganz Frankreich traten „nur“ zwanzig Listen gegeneinander an. Bei der letzten Wahl im Jahr 2014 gab es 24 Parteien, allerdings in acht Wahlkreisen, was einen Vergleich schwierig macht. Dieses Jahr gilt wieder ein Wahlkreis für das ganze Land; außerdem gibt es eine Fünfprozenthürde.
LREM und Rassemblement vorn
Marine le Pens rechtsextremer Rassemblement National und Emmanuel Macrons liberale La République en Marche (LREM) liegen in den Meinungsumfragen deutlich vor allen anderen Parteien.
Monatelang stand LREM dabei an der Spitze, diese Woche erklärten allerdings zum ersten Mal mehr Wahlberechtigte, sie würden für den RN stimmen, so eine Studie des Ifop-Instituts für Paris Match, CNews und Sud Radio. Eine weitere Meinungsumfrage des OpinionWay Institute ergab, dass 24 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die rechtsextreme und antieuropäische Partei von Le Pen stimmen wollen, verglichen mit 21 Prozent für die proeuropäische LREM.
Die schlussendlichen Wahlergebnisse könnten somit auch als „Bestrafung“ oder „Zustimmung“ für Macrons proeuropäische Politik gelesen werden. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Europawahl somit zu einer „Abstrafungsabstimmung“ über die Politik der Regierung wird.
Gleichzeitig könnte ein gutes Wahlergebnis der LREM mehr Macht und Legitimität verleihen, sich als neue, treibende Kraft innerhalb der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) durchzusetzen.
Der RN scheint seinerseits auf gutem Wege, den Erfolg bei den letzten EU-Wahlen im Jahr 2014 zu wiederholen. Auf europäischer Ebene ist die Zusammenarbeit zwischen dem RN und seiner Fraktion, der Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), allerdings nicht die oberste Priorität der Partei. Bisher beschränkten sich die französischen Rechtsextremen auf Stimmen gegen mehr europäische Integration und versuchten dabei gar nicht erst, sich mit Verbündeten aus anderen Ländern abzustimmen.
Führungsduo und Splitterparteien
Hinter dem LREM/FN-Führungsduo wollen sich die etablierten Parteien nach ihrem Präsidentschaftswahl-Fiasko von 2017 vor allem in neuer Form präsentieren.
Die Liste der konservativen Partei Les Républicains unter der Leitung von François-Xavier Bellamy würde demnach aktuell 15 Prozent der Stimmen erhalten. Viele andere liegen deutlich darunter, beispielsweise die Grünen (Europe Écologie Les Verts; neun Prozent) und linke Parteien wie La France insoumise (8,5 Prozent) und PS/Place publique (fünf Prozent).
Nicolas-Dupont Aignan vom rechten Debout le France kündigte indes an, er wolle sich der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) im EU-Parlament anschließen.
Die linke Partei von Benoît Hamon (Génération.s) und die französische kommunistische Partei (PCF) werden laut der aktuellen Prognosen die Fünfprozenthürde wohl nicht überschreiten können.
Die große Unbekannte ist die „Gelbwesten“-Bewegung. Aus ihr haben sich inzwischen drei verschiedene Wahllisten herauskristallisiert: die „Evolution citoyenne“ (Bürgerevolution) von Chrisophe Chalençon, die „Alliance jaune“ (Gelbe Allianz) des Sängers Francis Lalanne und das „Mouvement pour l’initiative citoyenne“ (Bewegung für Bürgerinitiative).
Die „Bürgerevolution“-Liste hat bereits ihre politische Nähe zur italienischen Fünf-Sterne-Bewegung unterstrichen. So traf ihr Führer Christophe Chalençon die Nummer zwei der italienischen Regierung und Führer der Fünf-Sterne-Bewegung, Luigi di Maio. Dieses Treffen hatte zu einer schweren diplomatischen Krise zwischen Paris und Rom geführt.
Das Potenzial der Gelbwesten-Listen ist jedoch nach wie vor äußerst ungewiss. Als die Protestbewegung ihren Höhepunkt erreichte, wurde einer solchen Liste Wahlgewinne von bis zu zwölf Prozent vorhergesagt. Inzwischen ist die Unterstützung für die drei unterschiedlichen Listen jedoch auf nur noch zwei Prozent gesunken.
Niedrige Wahlbeteiligung
Die große Auswahl und die Unübersichtlichkeit der 33 Wahllisten birgt die Gefahr, dass sich einige potenzielle Wählerinnen und Wähler gegen die Stimmabgabe entscheiden.
Dabei scheint der Wille, bei den Europawahlen abzustimmen, ohnehin gering zu sein. Die erwartete Wahlbeteiligung stagniert in verschiedenen Meinungsumfragen bei rund 40 Prozent. Auch im letzten Europawahljahr 2014 waren lediglich 42,4 Prozent der Wahlberechtigten tatsächlich zur Wahl gegangen.
Niedrige Wahlbeteiligung bei den Europawahlen ist in Frankreich nichts Neues: Seit den ersten allgemeinen Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 1979 ist die Beteiligung um mehr als 18 Prozentpunkte (von 61 auf ebenjene 42,4 Prozent) gesunken.
Die Parteien tragen derweil mit ihrem Wahlkampf ebenfalls nicht dazu bei, dass die EU-Wahlen und europäische Themen mehr in den Fokus gerückt werden. Stattdessen drehen sich die Diskussionen nach wie vor um die „Gelbwesten-Krise“ sowie die darauffolgende „große nationale Debatte“.
Die Sozialistische Partei und auch LREM haben noch nicht einmal ihre offiziellen Programme für die Europawahl veröffentlicht.
[Bearbeitet von Frédéric Simon und Tim Steins]