Yanis Varoufakis geht als Spitzenkandidat für die Partei „Demokratie in Europa“ ins EU-Wahlrennen. Im Interview mit EURACTIV erklärt er, warum er das ausgerechnet in Deutschland tut und warum seine Partei aktuell keine Kooperation mit der Linken-Fraktion im EU-Parlament anstrebt.
Yanis Varoufakis war bis 2015 Griechenlands Finanzminister. Er verließ die Syriza-geführte Regierung, als diese in Reaktion auf die Krise weitere Austeritätsmaßnahmen einleitete. Seine Bewegung „Democracy in Europe Movement“ (Diem25) startete 2016. Im vergangenen November wurde Varoufakis ihr Spitzenkandidat für die EU-Wahlen in Deutschland.
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Herr Varoufakis, warum haben Sie sich entschieden, als Spitzenkandidat in Deutschland anzutreten?
Wenn man das römische Reich umbauen will, sollte man in Rom anfangen. Deutschland ist das wirtschaftliche Herz Europas. Deutschland ist der Motor, der Europa zieht, ob man das nun gut findet oder nicht. Ein anderer Grund ist aber auch, dass die öffentliche Meinung in Deutschland – zumindest bis vor kurzem – sehr viel proeuropäischer war als beispielsweise in Frankreich. Die französischen Eliten haben die EU immer als Instrument gesehen, um Frankreichs Macht auf globaler Ebene zu stärken. Deutschland hingegen wollte wirklich das europäische Projekt voranbringen. Deswegen ist hier der beste Ort, um an unserer Demokratie in Europa zu arbeiten.
Unter der Sammlungsbezeichnung “Europäischer Frühling“ haben sie Parteien in unterschiedlichen EU-Ländern aufgebaut und zusammengeschlossen. Wollen die Menschen wirklich grenzüberschreitende, europaweite Parteien und Wahllisten?
Leider erlauben die Gesetze ja keine transnationalen Parteien. Deswegen simulieren wir eine europaweite Partei, indem wir Parteien in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten gegründet haben, die aber gemeinsam als ein Ganzes operieren. Und die Menschen sind absolut offen für einen solchen europäischen Ansatz. Natürlich nicht alle – keine Frage. Aber man muss ja keine Revolution vom Zaun brechen. In der Politik geht es nicht darum, den Menschen einfach hinzuwerfen, was sie bisher haben wollten. Manchmal muss man den Leuten entgegentreten, sie konfrontieren, und versuchen, sie zu überzeugen, dass wir aus unserem Nationaldenken ausbrechen müssen.
Aber wie kann eine europäische Partei nationale Themen behandeln und nationale Interessen vertreten?
Es gibt keine rein nationalen Probleme. Wir haben große, systemische, europäische Probleme – wie Armut, Schulden und den Bankensektor – die nicht auf nationaler Ebene gelöst werden können. Beispiel: Was auch immer man in Deutschland macht, damit allein wird man den Klimawandel nicht aufhalten können. Um es mit Hegel zu sagen: Keine Nation kann frei und wohlhabend sein, solange auch nur eine andere Nation versklavt ist.
Lassen Sie uns über das Europäische Parlament sprechen. Könnten Sie sich vorstellen, der linken GUE/NGL als Fraktion beizutreten?
Im Idealfall würden wir uns keiner [Fraktion] anschließen. Wir möchten mit verschiedenen Gruppen bei verschiedenen Themen zusammenarbeiten. In welche Richtung uns die bürokratischen Prozesse in Bezug auf das Rederecht usw. zwingen könnten, ist erst einmal eine andere Sache. Ich glaube nicht, dass dies der richtige Zeitpunkt ist, um darüber zu diskutieren. Wir werden dies besprechen, wenn es soweit ist.
Die Europäische Linke scheint derweil gespalten zu sein. Splitterbewegungen wie Mélenchons „La France insoumise“ oder „Aufstehen“ in Deutschland sind entstanden. Was ist da los?
Es gibt keine echte europäische Linke mehr. Es gibt Menschen wie Gregor Gysi; dann gibt es [den griechischen Premierminister] Alexis Tsipras, der seinem Volk die lächerlichste Sparpolitik aufzwingt; oder dann gibt es Podemos in Spanien, die überhaupt keine europapolitische Linie hat. Die linken Parteien beheimaten derart unterschiedliche Fraktionen, dass das Verfassen eines Parteiprogramms zu einem Freibrief wird. Diese Programme sind nicht kohärent. Auf diese Weise werden Sie keine Wähler von der Rechten oder von anderen progressiven Parteien gewinnen, sondern Wähler verlieren.
Wenn die Linke geeint, kohärent und strukturiert wäre, hätten wir Diem25 nicht gegründet, sondern wären ihnen beigetreten. Jetzt sind wir im Wahlkampf Konkurrenten, was für uns sehr schmerzhaft ist.
Es gab in letzter Zeit immer wieder mal Gerüchte, dass sich die Europäische Linke mit den Sozialdemokraten und den Grünen zusammenschließen könnte. Der sogenannte „Progressive Caucus“ wurde als erster Kooperationsversuch zwischen den drei Fraktionen ins Leben gerufen. Ist dies eine mögliche, starke Koalition für die Zukunft?
Aus meiner Sicht ist das hauptsächlich großspuriges Gerede. [Die drei Fraktionen] nähern sich nicht wirklich einander an. Die Wahlen finden schon im Mai statt, aber sie funktionieren einfach nicht zusammen. Sie haben kein gemeinsames Programm, die Debatte über den Progressive Caucus hat keinerlei Einfluss auf ihre Wahlkämpfe. Er ist irrelevant.
Sie werden nun Ihr europäisches Programm für die Wahlen fertigstellen. Was sind Ihre wichtigsten Vorschläge?
Wir führen unsere Kampagne mit sehr konkreten Vorschlägen; mit Schritten, die wir schon morgen umsetzen könnten, anstatt uns nur auf langfristige Reformen zu konzentrieren, die erst nach Jahren in Kraft treten. Unser Ansatz war: Was können wir morgen auf der Grundlage der bestehenden Regeln und Institutionen ändern?
Zunächst einmal würden wir jedes Jahr 500 Milliarden Euro für eine grüne Energieunion ausgeben. Das ist gerade für Deutschland absolut notwendig. Sie haben hier ein massives Problem mit Ihrem Energiesektor. Unsere Schätzung ist, dass wir fünf Prozent des BIP der Eurozone für grüne Investitionen aufwenden müssen, um damit umweltfreundlichen Verkehr und Investitionen in Batterien und erneuerbare Energien zu ermöglichen.
…Aber dafür müsste der mehrjährige Finanzrahmen (MFR) enorm angehoben werden. Die Mitgliedsstaaten würden das nicht akzeptieren.
Nein, wir müssten den MFR überhaupt nicht erhöhen! Mein Vorschlag ist, dass die Europäische Investitionsbank (EIB) über einen Zeitraum von fünf Jahren zusätzliche Anleihen im Wert von 500 Milliarden Euro pro Jahr ausgeben müsste. Diese Anleihen werden seit 25 Jahren ausgegeben; es müssten nur mehr von ihnen bereitgestellt werden. Ich habe diese Idee in der EIB vorgeschlagen, und sie fand große Unterstützung.
Was fehlt, ist die politische Unterstützung. Der Rat befürchtet, dass unsere Kreditwürdigkeit beeinträchtigt werden könnte. Deshalb müsste die Europäische Zentralbank (EZB) diese Anleihen aufkaufen, um die Preise hochzuhalten. Und das tut sie ja bereits, es ist völlig legal.
Zweitens – wir wollen einen europäischen Fonds zur Bekämpfung der Armut einrichten. Im vergangenen Jahr erzielte die EZB einen Gewinn von 91 Milliarden Euro. Das sollte nicht passieren. Sie ist ja keine Privatbank. Das ist einfach ein Geldsystem, das aus sich selbst heraus Geld generiert. Warum also nicht dieses Geld auch verwenden? Wenn die EZB Schecks an Bedürftige aushändigen würde, würde dies nicht nur die Armut bekämpfen, sondern uns als Europäer auch enger miteinander verbinden.
Unser dritter Punkt ist umstrittener, aber angesichts der Schuldenkrise notwendig. Der Maastrichter Vertrag erlaubt es den Mitgliedstaaten, eine Staatsverschuldung von 60 Prozent ihres BIP zu haben. Aber wir alle übertreffen das. Warum also nicht die Schulden ab 60 Prozent splitten – alles darüber hinaus ist Sache der Mitgliedsstaaten. Aber für diese „ersten“ 60 Prozent sollte die EZB kein Geld drucken, sondern als Vermittler zwischen den Staaten und privaten Investoren fungieren. Die Bank würde sichere Anleihen ausgeben und diese an – sagen wir japanische oder deutsche – Investoren verkaufen. Italien zum Beispiel würde dann Geld an diese Investoren zurückzahlen, aber zu einem viel niedrigeren Zinssatz als das, was wir derzeit haben. Über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten würden vierzig Prozent der Schuldenrückzahlungen aufgrund der niedrigeren Zinssätze ausgelöscht werden. So würden wir die Schuldenkrise abbauen, ohne die Steuerzahler dazu zu zwingen, mehr zu zahlen.
Neben diesen konkreten Vorschlägen steht auf der Ziele-Liste von „Diem25“ vor allem die Forderung nach mehr Demokratie in Europa. Wie wollen Sie das erreichen?
Die Demokratisierung der EU ist eines unserer langfristigen Ziele. Wir sollten Ideen darüber sammeln, was wir von einer europäischen Regierungsführung erwarten. Ich persönlich wünsche mir ein föderales Europa mit einer föderalen Verfassung. Aber dafür müssten wir einen Dialog darüber aufnehmen, wie wir die bestehenden EU-Institutionen ersetzen können – denn sie sind alle schlichtweg schrecklich.
Alle Instiutionen? Würden Sie auch das Europäische Parlament abschaffen wollen?
Vielleicht nicht abschaffen. Aber es muss ein souveränes Parlament sein, das Gesetze einleiten kann. Und: Die Kommission muss von den Bürgern gewählt werden, wie eine Bundesregierung.
Es sollte nicht wie in der Fernsehserie „Borgen“ sein, wo der Ministerpräsident zu einem seiner Minister sagt: „Ich schicke dich nach Brüssel, wo dich niemand schreien hören kann.“ Aber genau so wird es derzeit in der europäischen Politik gehandhabt. Das ist nicht der richtige Weg, um Europa zu führen.