Soziales Europa: Es braucht mehr als den „kleinsten gemeinsamen Nenner“

Protestaktion von Arbeitenden im Pflegebereich in Göppingen, Dezember 2013. [to.wi/flickr]

Im Vorfeld der Europawahlen bleibt die soziale Dimension Europas eine „große Unbekannte“ für die meisten europäischen Bürger. EURACTIV Frankreich hat darüber mit Matthias Savignac gesprochen.

Matthias Savignac ist Vizepräsident der Internationalen Vereinigung der Versicherungsverbände (Association Internationale de la Mutualité, AIM) und dort verantwortlich für die internationale Zusammenarbeit.

Die Europawahlen finden Ende Mai statt. Wie beurteilen Sie die vergangene fünfjährige Amtszeit mit Blick auf den Sozialbereich?

Nicht nur in den vergangenen fünf, sondern in den letzten zehn Jahren haben sich nur sehr wenige europäische Rechtsvorschriften auf soziale Fragen, den Zugang zur Gesundheitsversorgung und die umweltbedingte Gesundheit konzentriert. Europa fokussierte sich weiterhin hauptsächlich auf wirtschaftliche Belange.

Die Verabschiedung der Europäischen Säule der sozialen Rechte im Jahr 2017 war ein guter Schritt. Aber sie ist eher ein Bezugsrahmen für die Bewertung der Sozialpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten – auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners. Es handelt sich nicht um eine Zwangsgesetzgebung mit dem Ziel einer wirklichen Verbesserung der Konvergenz im Sozialrecht.

Das Ziel einer solchen „Aufwärtskonvergenz“ wird auch von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) unterstützt, die einen Mindestbestand an Sozialschutz vorschlägt. Ein solcher Mindestschutz könnte auf europäischer Ebene angestrebt werden, indem ein echter „sozialer Konvergenzvertrag“ vorgeschlagen wird, der auch eine solche Aufwertung der sozialen Rechte beinhaltet.

Illusion: Das Soziale Europa kommt

Martin Höpner erklärt, warum wir aus seiner Sicht endlich „mit liebgewonnenen Mythen“ brechen müssen.

Europa wird oft wegen seiner Trägheit in sozialen Fragen kritisiert. Ist diese Kritik berechtigt?

Auch wenn Fragen des Zugangs zur Gesundheitsversorgung und zur öffentlichen Gesundheit von den Mitgliedstaaten weitgehend abgedeckt werden, befasst sich Europa auch mit der Sozialpolitik. Dies ist eines der Vorrechte der EU-Institutionen. Aber bemerken und spüren die Bürger diese Arbeit in ihrem täglichen Leben?

Was in Italien, Österreich und mit dem Brexit im Vereinigten Königreich geschieht, zeigt, dass Europa heute eher als Hindernis angesehen wird. Die Bürger können den Nutzen der EU in ihrem täglichen Leben nicht erkennen. Es gibt eine europäische Koexistenzkrise.

Gerade der Brexit war ja eher Ausdruck der Ablehnung Europas in seiner sozialen als in seiner wirtschaftlichen Dimension…

Die Briten haben die wirtschaftlichen Vorteile Europas nie kritisiert. Aber ein gemeinsames Los, ein gemeinsames Handeln und ein gemeinsames Zusammenleben lassen sich nicht auf einer bloßen Wirtschaftsunion gründen.

Wenn es um ein soziales Europa geht, hat der Standpunkt eines einzelnen Staates nur dann einen Sinn und nur dann Gewicht, wenn er mit dem anderer Länder übereinstimmt. Deshalb wollen wir eine große Debatte einleiten, um die Erwartungen der Europäer mit Blick auf Gesundheit, nachhaltige Entwicklung, Beschäftigung, Datenschutz und Sozialschutz zu erfassen. Haben Franzosen die gleichen Erwartungen und Sorgen wie andere Europäer? Werden soziale Fragen als Aufgabe Europas wahrgenommen? Diese Fragen stellen wir auf unserer entsprechenden Online-Plattform.

Macht die EU Europa sozialer?

Hat die EU wirklich die sozialen Herausforderungen gemeistert? Und was sollten die Prioritäten für die neue Legislaturperiode sein?

Welche Themen sind Ihrer Ansicht nach besonders drängend?

Die umweltbedingte Gesundheit ist ein gutes Beispiel: Dies ist ein verbindendes, gemeinsames Thema für die Europäer. Im Bereich der Umweltgesundheit können Sie mehrere der Fragen ansprechen, die das europäische Zusammenleben ausmachen: Mobilität, Zugang zu Gesundheitsversorgung, Ökologie usw.

Heute durchlebt Europa eine echte Sinnkrise; Hoffnungen werden zerstört. Wirtschaftsliberale Hoffnungen: zerstört von der Krise 2008. Kollektivistisch-sozialistische Hoffnungen: mit dem Fall der Berliner Mauer weggefegt. Politische Hoffnungen: Krisen und Protest, wie beispielsweise die Gelbwesten zeigen. Religiöse Hoffnungen: ein Anstieg des Obskuren.

Die mutualistische Bewegung kann mit ihrem gemeinnützigen, demokratischen und tief säkularen Geschäftsmodell dazu beitragen, Antworten auf diese Verzweiflung zu geben.

Es hat einige Fortschritte gegeben, z.B. die jüngste Abstimmung über den Vaterschafts- und Erziehungsurlaub. Für die französischen Bürger, beispielsweise, werden diese neuen Regeln aber nur sehr kleine Veränderungen am bestehenden Eltern- und Vaterschaftsurlaub mit sich bringen. Wie können die Fortschritte in Europa also gewürdigt werden, wenn das nationale Recht teilweise schon den gleichen Schutz – wenn nicht sogar mehr – bietet?

Wie gesagt: Auf europäischer Ebene werden die meisten Entscheidungen im sozialen Bereich nach den Kriterien des kleinsten gemeinsamen Nenners getroffen. Infolgedessen haben viele Staaten bereits Gesetze, die mindestens den gleichen Schutz-Standard bieten. Diese Länder müssen daher vor allem sicherstellen, dass sie ein gutes Versorgungsniveau aufrechterhalten.

Im Kontext der Wirtschaftskrise und der geschwächten Sozialsysteme sollten aber auf EU-Ebene einheitliche Normen festgelegt werden, wobei die Standards nur nach oben und nicht nach unten korrigiert werden dürfen.

Lassen Sie uns gemeinsam das soziale Europa von morgen aufbauen!

Europa befindet sich in einem Schwebezustand angesichts der bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament 2019. Ein idealer Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, wie die Europäische Union von morgen aussehen könnte und vor allem wie wir, die Gegenseitigkeitsgesellschaften, sie uns wünschen.

Einer aktuellen Umfrage zufolge ist der soziale Schutz der EU-Bürger für die französischen Wähler mit Blick auf die Europawahlen von Interesse (18 Prozent nannten dieses Thema als „wichtig“). Aber das Thema bleibt dennoch weit hinter Terrorismus, Arbeitslosigkeit, Einwanderung und Klima zurück. Wie erklären Sie das?

Die Bürger halten Europa in sozialen Fragen für nicht wichtig und nicht mal für legitim, weil ihr erster Ansprechpartner für diese Fragen nun einmal der Staat ist. Europa wird als (noch) nicht fähig angesehen, auf soziale Herausforderungen zu reagieren. Dabei ist ein solches soziales Europa in den Bereichen Gesundheit, Beschäftigung und Umwelt bereits auf diffuse Weise präsent – und das sind doch Themen, die im Mittelpunkt der Anliegen der Bürger stehen.

Wie wollen Sie die Wähler dann mit Blick auf das Thema „Soziales Europa“ mobilisieren?

Wir möchten den französischen und europäischen Bürgern zu den Fragen des sozialen Europas im Hinblick auf die Europawahlen vor allem zuhören. Die Mutualité Française hat in allen Mitgliedstaaten eine Kooperationsplattform eingerichtet, die die Erwartungen der EU-Bürger an ein soziales Europa erfasst. Danach sollen in rund zehn regionalen Debatten die Vorschläge der Bürger zur Diskussion und dann wiederum online zur Abstimmung gestellt werden. Am Ende dieser Konsultationen werden die Vorschläge mit der größten gesellschaftlichen Unterstützung den Kandidaten, die auf den Listen für die Europawahlen stehen, am 11. April vorgelegt.

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