Hunderte von Frauen und Kindern, viele von ihnen Verwandte ausländischer IS-Kämpfer, sind im Lager Al-Haul im Nordosten Syriens interniert. Sie haben offenbar „eine Miniaturversion des Islamischen Staates (IS)“ geschaffen, die Gefahr läuft, zu einem Nährboden für neue Terroristen und einem Sicherheitsrisiko für Europa zu werden.
Als die Türkei im Herbst 2019 ihre Militäroffensive gegen die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete im Nordosten Syriens startete, befürchteten viele, dass die in den kurdisch kontrollierten Regionen inhaftierten ausländischen IS-Kämpfer im Chaos fliehen und nach Europa gelangen könnten.
Die Türkei hatte ihrerseits erklärt, die Offensive ziele darauf ab, kurdische Kämpferinnen und Kämpfer – die von Ankara als Terroristen betrachtet werden – aus der eigenen Grenzregion zu vertreiben und eine „Sicherheitszone“ einzurichten. Dort sollten dann auch Binnengeflüchtete aus Syrien angesiedelt werden.
Während die Operation von Seiten der NATO-Verbündeten der Türkei harsche Kritik erntete, konnte eine befürchtete Massenflucht aus den Internierungslagern verhindert werden. Dennoch bezeichnen kurdische Gruppen die Lager nahe der syrisch-irakischen Grenze als „tickende Zeitbomben“: Die Frauen dort lebten streng nach der IS-Ideologie und Ausbruchsversuche seien weiterhin keine Seltenheit.
Für die Kurdinnen und Kurden sind die Camps, in denen auch zahlreiche Angehörige ausländischer Kämpfer aus Europa untergebracht sind, einerseits eine finanzielle Belastung, andererseits aber auch eine Art „Schutzschild“ vor weiteren türkischen Angriffen.
„Die Ausländerbereiche im Camp Al-Haul werden wie ein kleiner ISIS-Staat geführt,“ warnt auch die deutsche EU-Parlamentsabgeordnete Hannah Neumann (Grüne) im Gespräch mit EURACTIV.com. Neumann ist Mitglied des Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlaments und reiste im November nach Nordost-Syrien.
Insbesondere das Lager Al-Haul in der autonomen Verwaltungszone Nord- und Ostsyrien schätzt sie ebenfalls als eine „tickende Zeitbombe“ ein, wie sie erklärt.
Radikalisierung im Camp
Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten beherbergt Al-Haul mehr als 60.000 Menschen, darunter auch 24.300 Syrerinnen und Syrer, die bei den Kämpfen gegen den IS vor fast zwei Jahren entweder gefangen genommen oder vertrieben worden waren.
„Was wir in den Lagern sehen, ist ein weiterer Prozess der Radikalisierung, denn es gibt keine Ressourcen, um radikalere von weniger radikalen Personen zu trennen. Und es gibt auch keine Mittel und Unterstützung für Schulkinder,“ sagt Neumann.
Infolgedessen könne sich die Radikalisierung ausbreiten: Auch Kinder, die in diesem Umfeld aufwachsen, würden zunehmend radikalisiert.
„Wir haben an Orten wie Abu Ghuraib [dem berüchtigten Gefängnis im Irak] gesehen, was passiert, wenn man radikale Elemente aus verschiedenen Ländern zusammenbringt. Und hier sprechen wir von insgesamt 50 verschiedenen Nationen in einem gemeinsamen Lager – es ist der perfekte Nährboden dafür, dass sich so etwas wie ISIS wiederholt, nur wissen wir es diesmal im Voraus,“ warnt Neumann.
Auch die EU müsse man in dieser Hinsicht kritisieren: „Bis jetzt haben sich die Mitgliedsstaaten blind und taub gestellt.“ Sie selbst würde sich wünschen, dass die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten drängt, Verantwortung zu übernehmen – oder die Brüsseler Institution von den Staaten ein legitimes Mandat erhalten würde, sich der Situation selbst anzunehmen: „Ich erwarte in jedem Fall von der EU, dass man sich zumindest mit den Fälle der EU-Bürgerinnen und -Bürger auseinandersetzt, die sich in diesen Lagern befinden.“
Westliche Staaten halten sich zurück
Westliche Nationen haben tatsächlich weitgehend gezögert, ihre mit dem IS sympathisierenden Staatsangehörigen, die im Nordosten Syriens festgehalten werden, rückzuführen. Einige haben zumindest einzelne Frauen und Kinder auf Einzelfallbasis in die Herkunftsländer zurückgeholt.
„Das ist unpopulär, und ich kann gut verstehen, warum. Aber die einzige klare und saubere Lösung wäre die Rückführung, denn irgendwann werden diese Menschen entweder freigelassen oder fliehen, und dann haben wir keine Kontrolle mehr über sie,“ meint Neumann.
Schätzungen zufolge würde dies etwa 1000 bis 2000 Menschen mit EU-Staatsbürgerschaft betreffen.
Neumann gibt zu bedenken: „Wenn wir sie zurückbringen, Gerichtsprozesse führen, sie gegebenenfalls ins Gefängnis stecken und sie De-Radikalisierungsprogramme durchlaufen, wissen wir zumindest, wer sie sind, wir können sie nachverfolgen – das wäre auch aus sicherheitspolitischer Sicht zu befürworten.“
Neumann weist auch daraufhin, dass es einen „merkwürdigen Zwiespalt“ gebe: Diejenigen Mitgliedsstaaten, die die EU am lautesten auffordern, das Problem Terrorismus anzugehen (wie Frankreich und Österreich) seien auch dieselben, die ihre Souveränität in dieser Hinsicht nicht teilen oder abgeben wollen und lieber auf nationalstaatlichen Ansätzen zur Lösung des Problems beharren. Solche Ansätze seien aber „zum Scheitern verurteilt“.
Darüber hinaus sei es „höchst problematisch“, dass die EU mit Marokko, der Türkei oder anderen Ländern verhandelt, um deren potenzielle Terroristen rückzuführen, „aber wir uns gleichzeitig weigern, über „unsere“ Täter zu sprechen, die die schlimmsten Gräueltaten in Syrien und im Irak begangen haben“.
Dies untergrabe die Glaubwürdigkeit der EU: „Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht mit zweierlei Maß messen,“ so die Europaabgeordnete.
Gemeinsame Terrorbekämpfung
Gleichzeitig verpflichteten sich mehrere EU-Länder, darunter Frankreich und Deutschland, im November – nach den Anschlägen von Paris, Nizza und Wien – erneut Anstrengungen zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus zu unternehmen. Sie fordern unter anderem eine Reform des Schengenraums und strikte Maßnahmen gegen mögliche ausländische Kämpfer.
Für die EU ist dies jedoch auch ein schmaler Grat zwischen der Bekämpfung des Terrorismus einerseits und der Stigmatisierung der muslimischen Gemeinschaften in Europa andererseits.
„Die Rhetorik, die wir intern pflegen, ist problematisch,“ findet auch Neumann.
Es gebe innerhalb der EU nach wie vor „nur sehr wenige gewalttätige Dschihadisten wie diejenigen, die die Attentate in Paris oder Wien begangen haben,“ erinnert die Abgeordnete, betont jedoch auch: „Diese Menschen und ihre Taten müssen wir aber natürlich sehr streng und eindeutig verurteilen.“
Die ehemalige Konfliktforscherin fügt allerdings hinzu, dass die EU behutsam vorgehen solle, wenn sie die Zahl der islamistischen Sympathisanten verringern will: „Wir sollten nicht in die Falle tappen, [die Religion] Islam mit Extremismus zu verwechseln oder gleichzusetzen. Wir müssen in unseren Kategorisierungen sehr klar und konsequent sein, um diejenigen, die in diesem Kampf unsere Verbündeten sein können, nicht von uns zu entfremden.“
[Bearbeitet von Georgi Gotev/Zoran Radosavljevic/Tim Steins]