Boris Johnson hat einen Brexit-Deal mit der EU erreicht. Jetzt muss er ihn daheim in London verkaufen.
Entgegen aller Vorhersagen über einen Gipfel, der wegen eines diplomatischen Showdowns bis ins Wochenende andauern könnte, unterzeichneten die politischen Entscheidungsträger gestern Mittag das Brexit-Abkommen. Es wurde bereits eine Stunde nach Beginn des Gipfels erzielt.
Der irische Premierminister Leo Varadkar schloss sich dann den EU-Rats- und Kommissionspräsidenten Donald Tusk und Jean-Claude Juncker an, um den Pakt der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Boris Johnsons Deal basiert vor allem auf einem neuen Protokoll über Nordirland, nach dem die britische Provinz weiterhin an die EU-Binnenmarktvorschriften für Waren angepasst bleibt. Die anwendbaren Zölle sollen am Eintrittsort in Nordirland gelten, und britische Behörden sind für die Anwendung des Zollkodex der EU zuständig.
Diese Vereinbarung gilt vorläufig und muss zu einem späteren Zeitpunkt von der nordirischen Parlamentsversammlung bestätigt oder dann abgelehnt werden: Im Jahr 2025 soll die Versammlung mit einfacher Mehrheit darüber abstimmen, ob die EU-Vorschriften weiterhin beibehalten werden oder nicht.
Samstag, 9:30 Uhr
Diese Einigung scheint verhältnismäßig einfach über die Bühne gegangen zu sein. Jetzt verlagert sich die Aufmerksamkeit aber auf Westminster: Dort findet am morgigen Samstag ab 9:30 Uhr Londoner Zeit eine Debatte statt, die am Abend mit einer Abstimmung über Johnsons Deal endet.
Der britische Premierminister wird versuchen, die Abstimmung als eine Entscheidung über „Mein Deal oder kein Deal“ darzustellen. Ob er den Erfolg aus Brüssel auch daheim wiederholen kann, ist aber überaus unklar. Laut den meisten Prognosen dürften der Regierung einige Stimmen im House of Commons fehlen.
Die Demokratisch-Unionistische Partei Nordirlands hat bereits erklärt, dass ihre zehn Abgeordneten sich alle gegen das Abkommen aussprechen werden. Somit wäre Johnson auf die Stimmen von fast 20 Labour-Abgeordneten und auf die aller 21 konservativen Abgeordneten angewiesen, die im September aus der Partei ausgeschlossen wurden, weil sie ein Gesetz zur Verhinderung eines „No Deal“-Brexit unterstützt hatten.
Labour-Chef Jeremy Corbyn hat angedeutet, dass Abgeordnete, die für Johnsons Deal abstimmen, aus der Partei ausgeschlossen werden.
Befürworter eines zweiten Referendums haben derweil signalisiert, dass sie am Samstag nicht versuchen werden, eine Mehrheit für eine neue Volksabstimmung zu erhalten. Stattdessen sei die oberste Priorität, Johnsons Deal abzulehnen.
Unterdessen hat die Scottish National Party einen Änderungsantrag eingereicht, in dem eine Verlängerung der Austrittsprozesse bis Ende Januar gefordert wird. Dann könnten auch neue Parlamentswahlen durchgeführt werden.
Tatsächlich scheint die Frage, ob eine solche dreimonatige Verlängerung beantragt werden soll, aber aktuell bei den EU-Institutionen nicht zur Debatte zu stehen. „Wir haben einen Deal, und dieser Deal bedeutet, dass es keine Notwendigkeit für eine weitere Verlängerung gibt,“ preschte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Johnson vor. Im weiteren Verlauf betonte er erneut, dass es keine Verlängerung geben werde.
Während diese Aussagen in gewisser Weise hilfreich für Johnson sein könnten, da er somit den Druck daheim weiter erhöhen kann, zeigten sich einige EU-Beamte und Mitgliedstaaten irritiert. So hieß es, es sei nicht Junckers Aufgabe, über eine Verlängerung zu entscheiden. Nahegelegt wurde, dass die Mitgliedstaaten eine solche Verlängerung gewähren würden, wenn die britischen Abgeordneten den Deal am Samstag ablehnen.
Wie stehen Johnsons Chancen?
EU-Diplomaten sind sich offensichtlich auch bewusst, dass die Chancen in Westminster aktuell gegen Johnson stehen. Vorherrschend war aber eine Mischung aus Erleichterung und Bedauern: „Was ich heute fühle, ist Traurigkeit. Denn in meinem Herzen werde ich immer ein Remainer sein. Ich hoffe, dass das Vereinigte Königreich eines Tages zurückkehrt. Unsere Tür ist offen,“ sagte Ratspräsident Tusk. Der Ire Varadkar fügte hinzu: „Ich bedaure wirklich, dass das Vereinigte Königreich die EU verlässt, aber ich respektiere ihre Entscheidung voll und ganz.“
Zufriedenheit gab es, wenig überraschend, bei Boris Johnson, der sich über einen „sehr produktiven Tag für das Vereinigte Königreich“ freute. Er bekräftigte, er sei „sehr zuversichtlich“, am Samstag die Unterstützung der britischen Parlamentsabgeordneten für seinen Deal zu erhalten.
Der erste Schritt sei getan, „jetzt beginnt das Aufbauen“, sagte er und verwies auf die Notwendigkeit, schnellstmöglich mit der Entwicklung einer „neuen und fortschrittlichen Partnerschaft“ mit der EU zu beginnen.
Davor steht aber erst einmal der Samstag in Westminster an.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]