EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat die Europaabgeordneten am heutigen Mittwoch in Straßburg gewarnt, das Risiko eines „No Deal“-Brexits sei „sehr real“. Er selbst sei bereit, „Tag für Tag, von früh bis spät“ zu arbeiten, um doch noch ein Abkommen abzuschließen. Unterdessen unterstützten die EU-Parlamentarier eine Resolution, mit der dem Vereinigten Königreich eine weitere Verlängerung gewährt werden könnte – wenn dies von London beantragt wird.
In der Entschließung, die von einer deutlichen Mehrheit von 544 zu 126 Stimmen angenommen wurde, heißt es, die Europaabgeordneten seien offen für eine Verlängerung. Parlamentspräsident David Sassoli betonte jedoch, dass dies nur möglich sein dürfe, wenn das Vereinigte Königreich Neuwahlen oder ein zweites Referendum abhält.
Weiter wird in der Resolution betont, bei einem Scheitern des aktuellen Abkommens liege die alleinige Verantwortung dafür beim Vereinigten Königreich – eine relativ deutliche Formulierung, die als Antwort an britische Politikerinnen und Politiker gelesen werden kann, die der EU zuvor vorgeworfen hatten, unnachgiebig und nicht kompromissbereit zu sein.
Juncker teilte dem Europäischen Parlament in seiner Ansprache mit, der britische Premierminister Boris Johnson habe ihm während eines gemeinsamen Mittagessens am Montag in Luxemburg versichert, London wünsche immer noch ein Folgeabkommen. Der Austritt am 31. Oktober – notfalls ohne Abkommen – sei für die britische Regierung jedoch beschlossene Sache.
Im engeren Kreis seines Kommissarkollegiums hatte Juncker am Dienstag gefrotzelt, beim Mittagessen in Luxemburg habe Johnson wohl „zum ersten Mal die Bedeutung des Binnenmarkts verstanden“.
Mit Blick auf die übrigen EU-Mitglieder und das Europaparlament betonte der Kommissionschef weiter: „Unsere Einheit ist unsere größte Stärke. Sie wird uns durch die Debatten der nächsten Woche tragen, und sie wird dieses Haus in den kommenden Jahren weiter bestimmen.“
Er wiederholte außerdem seine früheren Äußerungen und forderte, London müsse realistische Vorschläge unterbreiten, um die Backstop-Regelung für Irland im Austrittsabkommen zu ersetzen.
„Ich habe keine emotionale Bindung zur [angedachten] irischen Backstop-Regelung. Ich habe den Premierminister gebeten, schriftlich Alternativen vorzuschlagen,“ so Juncker.
Ratspräsidentschaft & Chefverhandler nicht sehr zuversichtlich
Finnlands Ministerin für EU-Angelegenheiten, Tytti Tuppurainen, die für die finnische Ratspräsidentschaft sprach, sagte ebenfalls, ein Brexit ohne Deal sei ein „wahrscheinliches Ergebnis“.
Die eher pessimistischen Ansichten von Tuppurainen und Juncker wurden auch vom Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, geteilt. Er erinnerte darüber hinaus daran, dass auch ein Brexit ohne Deal viele Fragen im Zusammenhang mit den Rechten von EU-Bürgerinnen und -Bürgern auf den britischen Inseln, der irischen Grenze und den britischen Verpflichtungen im Rahmen des langfristigen EU-Haushalts nicht lösen würde.
„Wir sollten keine Zeit damit verbringen, nur so zu tun, als würden wir verhandeln,“ mahnte er und kritisierte gegenüber den Abgeordneten, die britische Regierung habe auch in der vergangenen Woche lediglich Beschwerden über den irischen Backstop anzubieten gehabt, anstatt praktikable Alternativen vorzuschlagen.
„Wir wollen nicht zu einer physische Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zurückkehren, wir wollen die Bestimmungen des Karfreitagsabkommens umfassend schützen, und wir wollen die Integrität unseres Binnenmarkts schützen. Wenn das Vereinigte Königreich ohne ein Abkommen austritt, werden all diese Fragen nicht verschwinden – sie sind immer noch da und müssen vor einer zukünftigen Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich geklärt werden,“ sagte Barnier.
In der anschließenden Debatte schienen auch die EU-Abgeordneten der Frage nach einem Harten Brexit Ende Oktober überdrüssig zu sein.
Der Brexit-Unterhändler des Europäischen Parlaments, Guy Verhofstadt, betonte einmal mehr, die EU-Abgeordneten würden den Backstop oder auch eine andere Form von „Sicherheitsnetz“ befürworten, um zu vermeiden, dass erneut Gewalt an der inneririschen Grenze aufflammt.
Er stimmte seinen Vorrednern aber zu: „Es gab bisher keine rechtlich praktikable Alternative, die von der britischen Regierung auf den Tisch gelegt wurde.“
Unter Buh-Rufen der Brexit-Partei von Nigel Farage sagte der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber: „Im Moment ist es nicht das Vereinigte Königreich, das die EU verlässt, sondern Arbeitsplätze und Unternehmen, die Großbritannien verlassen.“
Wie weiter?
Die Staats- und Regierungschefs der EU werden sich am 16. und 17. Oktober in Brüssel zum nächsten Gipfel des Europäischen Rates treffen. Dies wird wohl die letzte Gelegenheit für London sein, doch noch eine Einigung für einen Ausstieg am 31. Oktober zu erzielen.
Das Europäische Parlament muss jegliche Brexit-Vereinbarung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich absegnen, damit diese in Kraft treten kann.
(Bearbeitet von Benjamin Fox und Tim Steins)