Im Morgengrauen des heutigen 1. Juli hatten sich die Staats- und Regierungschefs der EU noch immer nicht auf die Verteilung der EU-Spitzenposten geeinigt. Grund dafür ist unter anderem, dass die Konservativen aus Mittel- und Osteuropa einen von Angela Merkel unterstützten Plan ablehnten, der den Sozialdemokraten Frans Timmermanns zum neuen EU-Kommissionspräsident gemacht hätte.
Der erste Versuch, eine Einigung über die Ernennung der neuen Leiter der EU-Institutionen zu erzielen, scheiterte am 21. Juni.
Drei wichtige EU-Jobs stehen zur Disposition: die Präsidentschaft der Europäischen Kommission, die Präsidentschaft des Europäischen Rates und der Posten als Hoher Vertreter der EU für Außenbeziehungen.
Die Präsidentschaft des Europäischen Parlaments ist ebenfalls offen, wird aber über ein anderes Verfahren vergeben: Das neugewählte EU-Parlament soll seinen oder seine neue Vorsitzende während der ersten Plenarsitzung am Mittwoch bestimmen.
Am Wochenende hatten sich die Staats- und Regierungschefs aus Deutschland, Frankreich, Spanien und den Niederlanden am Rande des G20-Gipfels in Osaka getroffen, um die festgefahrene Situation zu überwinden. Die Spitzenpolitiker dieser Länder stehen auch für die drei größten Fraktionen im EU-Parlament (Europäische Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberale). Sie einigten sich darauf, den Posten als Kommissionspräsident „idealerweise“ an den sozialdemokratischen Kandidaten Frans Timmermans zu vergeben.
Im Rahmen des „Osaka-Deals“ hätte die konservative EVP im Gegenzug den Vorsitz im Europäischen Parlament sowie den Posten des Leiters der EU-Außenpolitik erhalten, während die Liberalen den zukünftigen Vorsitz des EU-Rates übernommen hätten.
Zugeständnisse von Merkel – Ablehnung von EVP
Der Osaka-Deal wurde als großes Zugeständnis der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel im Namen der EVP gedeutet. Die Partei war nach den EU-Wahlen am 26. Mai als stärkste Partei ins Europäische Parlament eingezogen.
Die EVP selbst weigerte sich jedoch, den Kompromiss von Osaka anzunehmen und wiederholte, ihr Spitzenkandidat Manfred Weber habe die Wahlen gewonnen und solle daher den Kommissionsvorsitz übernehmen.
Diese „Rebellion“ gegen Merkel soll nach einem EVP-Treffen zur Vorbereitung des EU-Gipfels gestern stattgefunden haben. Die Bundeskanzlerin hatte am Treffen selbst auch teilgenommen.
„Merkel vertritt Deutschland, nicht die EVP,“ machte beispielsweise Paulo Rangel, der portugiesische Vizepräsident der EVP, deutlich.
Antonio Tajani, der scheidende Präsident des Europäischen Parlaments (der ebenfalls der EVP angehört), sagte, es wäre für die konservative Partei „unmöglich“, für einen sozialdemokratischen Kandidaten zu stimmen. Darüber hinaus würde eine solche Abstimmung dem Willen der Wählerinnen und Wähler zuwiderlaufen.
Aus Sicht von EURACTIV will die EVP demnach weiter auf die Übernahme der Kommissionspräsidentschaft pochen bzw. die Aufgabe des Kommissionsvorsitzes mit einem derart hohen Preis verbinden, dass andere Parteien einem solchen „Kompromiss“ nicht zustimmen dürften.
Tajani kündigte auch an, das Europäische Parlament werde am Mittwoch über die Wahl seines oder seiner neuen Präsidentin abstimmen – unabhängig davon, ob die Staats- und Regierungschefs der EU bis dahin einen Kompromiss über den neuen Kommissionsvorsitz erzielen.
Merkel erklärte mit Blick auf das EU-Parlament: „Für mich ist es sehr wichtig, einen interinstitutionellen Konflikt zwischen Rat und Parlament zu vermeiden.“
Differenzen in der EVP
Die entschiedene Opposition gegen die in Osaka erzielte vorläufige Einigung führte dazu, dass der Beginn des Gipfeltreffens gestern um fast drei Stunden verschoben wurde, während verschiedene Spitzenpolitikerinnen und -politiker versuchten, die Pattsituation in persönlichen Gesprächen zu überwinden.
Ein Diplomat erklärte geradeheraus, die Spaltungen innerhalb der EVP-Familie seien zumindest teilweise für den mangelnden Fortschritt verantwortlich.
Da die EVP-Spitze an ihrer Haltung festhielt, setzte Ratspräsident Tusk den Gipfel gegen 23.00 Uhr aus, um bilaterale Gespräche mit den EU-Spitzen zu führen. Diese Gespräche dauerten fast fünf Stunden.
Bulgariens Premierminister Bojko Borissow traf sich derweil mit dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans in der Ständigen Vertretung Bulgariens und teilte ihm mit, ein Kompromiss sei „in Sicht“. Demnach werde der Niederländer den Spitzenposten der Kommission übernehmen und Weber zukünftig dem EU-Parlament vorsitzen. Ein entsprechendes zweiminütiges Video wurde auf Borissows Facebook-Seite veröffentlicht.
Die Ankündigung dürfte aber zu voreilig gewesen sein.
In seinen bilateralen Gesprächen testete Tusk indes auch die Chancen für alternative EVP-Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft aus. Dabei ging es vor allem um den Brexit-Verhandlungsführer Michel Barnier, die Weltbankchefin Kristalina Georgieva und den irischen Premierminister Leo Varadkar. Quellen aus dem Umfeld der Verhandlungen erklärten gegenüber EURACTIV allerdings, es handele sich dabei um ein „seltsames“ Trio, da beispielsweise Varadkar bisher keinerlei Ambitionen gezeigt habe, seinen Job als Chef der irischen Regierung aufzugeben.
Dennoch trat Varadkar zusammen mit den Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakei) als einer der lautstärksten Kritiker des „Osaka-Kompromisses“ auf.
Kaum Einigung in Sicht
Die „Gefahr“, dass die Eröffnungssitzung des Europäischen Parlaments in dieser Woche ohne einen Vorschlag der EU-Staaten für den Kommissionsvorsitz vonstatten gehen könnte, erhöht den Druck zusätzlich.
Ein EU-Diplomat räumte diesbezüglich ein, „dass die Staats- und Regierungschefs der EU sich der Tatsache bewusst sind, dass es besser wäre, heute Abend eine Wahl zu treffen“, um zu vermeiden, dass die Europaabgeordneten Ende dieser Woche mit der Wahl eines anderen Parlamentspräsidenten als Weber vollendete Tatsachen schaffen.
„Die für Mittwoch geplante Abstimmung könnte erhebliche Änderungen am Paket [gemeint sind ausgleichende Kompromisslösungen bezüglich der einzelnen Präsidentschaften] mit sich bringen,“ sagte der EU-Diplomat.
Eine weitere Schwierigkeit besteht dann darin, die EU-Ratspräsidentschaft und den Posten des Hohen Außenvertreters mit einem oder einer Kandidatin zu besetzen, die der zentristisch-liberalen Fraktion Renew Europe angehört und gewährleistet, dass für die vier Spitzen-Jobs ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis gewährleistet ist.
Angeblich besteht eine der nun diskutierten Möglichkeiten darin, sich heute nur auf die Kommissionspräsidentschaft zu einigen und die anderen Posten und Personalien bei einem weiteren Gipfeltreffen zu vereinbaren.
[Bearbeitet von Frédéric Simon und Tim Steins]