Der EU-27 steht es mit den Ergebnissen der gestrigen Nacht nun frei, offizielle Ratssitzungen abzuhalten und dabei Entscheidungen ohne das Vereinigte Königreich zu treffen, obwohl das Land noch Mitglied der Union ist. Dies wird vor allem als ein Erfolg für den französischen Präsidenten Macron gewertet, der zuvor Bedingungen für einen weiteren Brexit-Aufschub gestellt hatte.
Das erste dieser Treffen wird wohl der Gipfel zur „Zukunft Europas“ am 9. Mai im rumänischen Sibiu sein. Das Treffen war von vornherein ohne britische Vertreter geplant worden, da das Vereinigte Königreich ursprünglich schon am 29. März hätte ausscheiden sollen.
In den frühen Morgenstunden des heutigen Donnerstags konnte Premierministerin Theresa May den verbleibenden EU-Staaten dann eine weitere Brexit-Verzögerung von bis zu sechs Monaten (bis zum 31. Oktober) abringen.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker machte deutlich, die Idee, Gipfeltreffen in einem solchen „begrenzten Format“ durchzuführen, sei nicht ganz neu. Er erinnerte an exklusive Treffen der Eurogruppe, die er bereits 1997 als luxemburgischer Premierminister angedacht hatte. Damals habe er mit seinem Vorschlag vor allem Stirnrunzeln geerntet, so der Kommissionschef.
Macrons Teilsieg
Als Frankreichs Präsident Macron den Gipfel heute früh verließ, wurde er von Journalisten gefragt, ob er sich bei dem Treffen isoliert gefühlt habe – keine abwegige Frage, denn tatsächlich stand Frankreich an der Spitze der wenigen Länder, die sich gegen eine lange Brexit-Verlängerung aussprachen. Eine solche Verlängerung von bis zu einem Jahr war zuvor von Ratspräsident Donald Tusk ins Spiel gebracht worden.
Macron verneinte und fügte hinzu, seine Rolle sei es viel mehr gewesen, „Klarheit“ in diesen bisher einmaligen Prozess zu bringen. Seiner Ansicht nach wäre eine länger angelegte Verschiebung „nicht logisch“ gewesen und hätte wohl eher die EU-Institutionen geschwächt, „mit einem Mitglied, das zwar dabei ist, aber gehen will“.
Macron deutete erneut an, ihm wäre es lieber (gewesen), wenn das Vereinigte Königreich vor den Europawahlen ausscheiden würde: „Wir verbieten dem Vereinigten Königreich nicht, EU-Wahlen abzuhalten“, so Macron. Es sei aber „heikel“, Millionen Bürger an die Wahlurnen zu rufen und ihnen dabei zu sagen: „Das ist nur für ein paar Wochen“.
Die endgültige Entscheidung, künftige EU-Gipfeltreffen ohne das Vereinigte Königreich abzuhalten, wurde insbesondere auf Druck Frankreichs getroffen. Sie hat vor allem eine symbolische Bedeutung und vermittelt die Botschaft, dass im Scheidungsprozess der „Point of no return“ erreicht ist und dass London nicht mehr auf Augenhöhe mit den anderen EU-Mitgliedern agiert.
EU-Spitzen können mit Brexit-Verlängerung leben
Gleichzeitig hat vor allem Ratspräsident Donald Tusk mehrfach versucht, dem Vereinigten Königreich eine Tür zum weiteren EU-Verbleib offen zu halten.
Nach dem gestrigen Gipfel kommentierte Tusk, er sei mit der Entscheidung für eine sechsmonatige Verlängerung aber „generell zufrieden“. Dieses Zeitfenster würde „andere Szenarien als einen Brexit“ nach wie vor nicht ausschließen. Theoretisch könne das Vereinigte Königreich die Austrittsprozesse nach Artikel 50 immer noch widerrufen oder ein zweites Referendum durchführen.
Auch Juncker sagte, er könne mit dem Stichtag 31. Oktober gut leben. Seine eigene Amtszeit endet am 1. November.
„Aufrichtige Kooperation“
In Bezug auf die vereinbarte „aufrichtige Zusammenarbeit“ und die Zusicherungen, dass das Vereinigte Königreich die interne Entscheidungsfindung der 27 verbleibenden Staaten nicht blockiert, betonte Juncker, es sei wichtig gewesen, die Bedenken bezüglich möglicher britischer Blockademannöver zu entschärfen.
Er erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass die Ernennungen der Präsidenten des EU-Rats und der Kommission ohnehin mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. In dieser Hinsicht würde das britische Abstimmungsverhalten also keinen sonderlich großen Unterschied machen.
Tatsächlich war Juncker im Jahr 2014 selbst gegen den Willen des damaligen britischen Premierministers David Cameron gewählt worden.
Einige Beobachter sehen in diesen Vorgängen indes sogar eine Erklärung für die Entscheidung des britischen Volkes, die EU zu verlassen: Die Position eines so wichtigen Mitglieds wie des Vereinigten Königreichs hätte 2014 nicht ignoriert werden dürfen.
[Bearbeitet von Samuel Stolton und Tim Steins]