Während die verbleibenden 27 EU-Staaten eine starke gemeinsame Position zu haben scheinen, sind die Brexit-Pläne auf britischer Seite weiterhin unklar. Selbst grundlegendste Fragen wie die Rechtshoheit britischer oder europäischer Gerichte sowie die Grenzfrage in Nordirland sind nach wie vor ungeklärt. EURACTIV Frankreich berichtet.
Es sind nur noch neun Monate bis zum offiziellen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Wichtige Fragen zum Ausstieg sind jedoch nach wie vor ungelöst.
Die Verhandlungen laufen im Schneckentempo. Dabei hoffen alle europäischen Staats- und Regierungschefs, den Prozess spätestens beim Europäischen Ratsgipfel im Oktober abzuschließen. Über das Abkommen würde dann in den nationalen Parlamenten auf beiden Seiten des Ärmelkanals und im März 2019 im Europäischen Parlament abgestimmt. Der Prozess würde somit auch mitten in der heißen Phase des Wahlkampfes für die Europawahlen im Mai stattfinden.
„Zwei Jahre nach dem Referendum müssen die Briten verstehen, dass sie es sind, die uns verlassen – und nicht umgekehrt,“ sagte Klemens H. Fisher, Abteilungsleiter der Ständigen Vertretung Österreichs in Großbritannien, während eines Seminars über die Zukunft der EU nach dem Brexit, das von der Association of European Journalists (AEJ) im Europäischen Parlament organisiert wurde.
„Der Brexit ist eine Provokation, die aber zu einer Weiterentwicklung und stärkeren Vereinigung der Europäischen Union beigetragen hat,“ kommentierte der deutsche Europaabgeordnete Elmar Brok (EVP).
Ein Hauptproblem: Die Grenze in Nordirland
Sollte sich die Regierung von Theresa May entscheiden, den Binnenmarkt und die Zollunion zu verlassen, würde dies die Einrichtung von Zollkontrollen an der irisch-nordirischen Grenze bedeuten. Die Grenze auf der Insel würde de facto zur Außengrenze der EU werden. Die EU lehnt eine solche Grenzziehung ab und warnt, dies würde das 1998 unterzeichnete Karfreitags-Friedensabkommen gefährden.
„Niemand will die Rückkehr zu Grenzen der Vergangenheit,“ sagte Brian Hayes, irischer EVP-Abgeordneter. „Wir wollen Garantien dafür, dass die Bürger in ihrem täglichen Leben nicht beeinträchtigt werden. Nordirland muss in der Zollunion bleiben.“
Diese Position werde von der Mehrheit der EU-Abgeordneten – unabhängig von ihrer Fraktion – unterstützt.
„Gemeinsame rote Linien”
Ska Keller, Ko-Vorsitzende der Grünen-Fraktion, betonte: „Wir im Europäischen Parlament haben gemeinsame rote Linien. Diese sind die Rechte der EU-Bürger im Vereinigten Königreich und in Nordirland.“
Diese Position wird auch von den Sozialdemokraten geteilt: Die britische S&D-Abgeordnete Jude Kirton-Darling und ihre Fraktion fordern ein zukünftiges Grenz-Format „Norwegen Plus“, in dem Großbritannien Teil des Binnenmarktes und der Zollunion bleiben würde (Norwegen ist Teil des Binnenmarktes, gehört aber nicht der Zollunion an).
Auch aus Sicht der Sozialdemokratin Kirton-Darling ist sich das EU-Parlament bei den „roten Linien“ einig. Dies gelte „insbesondere für die Gewährleistung einer fairen Situation, in der das Vereinigte Königreich nicht zu einem Land der totalen Deregulierung im Wettbewerb mit der EU wird. Wir werden genau darauf achten, was in Bezug auf die Steuerpolitik, die Verbraucherrechte usw. getan wird.“
Immer wieder Meinungsverschiedenheiten in Großbritannien
Diese Einigkeit auf EU-Ebene scheint sich auf der anderen Seite des Kanals nicht zu zeigen. In Westminster muss Regierungschefin Theresa May immer wieder gegen die Polarisierung innerhalb ihrer eigenen Partei ankämpfen und Zugeständnisse machen. Die Position der Regierung ist daher nicht immer eindeutig.
„Das Vereinigte Königreich verlässt die EU, aber nicht Europa. Also brauchen wir gute Beziehungen. Wir sind bereit zur Zusammenarbeit, aber das Problem ist, dass wir nicht wissen, was sie [die britische Regierung] tun wollen, welche Art von Abkommen sie wollen,“ kritisierte EU-Parlamentspräsident Tajani vergangene Woche mehrfach.
„Für die britische Wirtschaft ist der Brexit ohnehin keine gute Lösung,“ fügte er hinzu.
Aus Sicht von Catherine Bearder, britische MEP von der liberalen ALDE, wird die Zeit knapp, „und zwar nicht auf der EU-Seite“. Es sei „manchmal wirklich deprimierend, mit britischen Abgeordneten zu sprechen und feststellen zu müssen, dass sie absolut nichts über Europa wissen.“
Ermüdung und die Warnung: Brexit wird ein „Desaster“
Sicher ist, dass der Brexit im Vereinigten Königreich weiterhin zu Streitigkeiten führt – in den Reihen der konservativen Tories, aber auch in der Bevölkerung, die von der Debatte zunehmend ermüdet scheint.
„Die Brexit-Gespräche berauben allen anderen Debatten des Interesses; es wird praktisch nichts anderes mehr diskutiert und getan. Die Leute langweilen sich immer mehr, wir spüren eine echte Müdigkeit. Die Bevölkerung will inzwischen nur noch, dass irgendwie ein Abkommen abgeschlossen wird,“ so MEP Jude Kirton-Darling.
Ihre Kollegin Catherine Bearder betonte: „Die Kosten für die europäischen Bürger sind enorm. Wir [im Europäischen Parlament] vertreten die Bürger, nicht die Staats- und Regierungschefs. Und wenn die Brexit-Einigung unserer Ansicht nach nicht gut genug ist, dann wird das Parlament sie nicht akzeptieren.“
Sie sagte mit Blick auf die mangelnden Fortschritte während des EU-Ratsgipfels Ende vergangener Woche, sie habe keinerlei positivere Gefühle in Bezug auf die Nordirland-Frage bekommen.
Inzwischen könne man so weit gehen, die Brexit-Verhandlungen als ein einziges „Desaster“ zu bezeichnen.