Die britische Regierung hat am Dienstag angekündigt, ihre Beamten würden ab dem 1. September an den meisten EU-Treffen nicht mehr teilnehmen. Stattdessen sollen sie sich auf andere Bereiche konzentrieren, die mit Blick auf den geplanten EU-Austritt Priorität haben. Das Vereinigte Königreich werde außerdem seine Stimmrechte auf EU-Ebene in Bereichen, die für London nicht mehr von Interesse sind, an Finnland abtreten.
Britische Beamte werden bald nur noch an Treffen auf EU-Ebene teilnehmen, bei denen das Vereinigte Königreich „ein erhebliches nationales Interesse an den Ergebnissen von Diskussionen, wie beispielsweise über Sicherheit, hat“. Das teilte das für den EU-Austritt zuständige Ministerium mit.
Weitere Themen, die auf dem britischen Radar bleiben werden, seien demnach der Brexit an sich, sowie „Souveränität, internationale Beziehungen oder Finanzen“.
In der Mitteilung heißt es weiter: „Diese Entscheidung spiegelt die Tatsache wider, dass der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU am 31. Oktober nun sehr nah ist und viele der Diskussionen in den EU-Sitzungen sich mit der Zukunft der Union nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs befassen werden.“
Ein EU-Diplomat kommentierte gegenüber EURACTIV.com, es sei dabei recht merkwürdig, dass das Vereinigte Königreich den Bereich Umwelt und Klima nicht auf seiner Interessensliste habe. Schließlich hoffe das Land, eine der kommenden Auflagen des UN-Klimagipfels ausrichten zu dürfen.
Steve Barclay, der britische Minister für den Austritt aus der Europäischen Union, merkte an, dass „unglaublich viel Zeit und Mühe in die EU-Sitzungen gesteckt wird“ und die Anwesenheit britischer Beamter daher um rund die Hälfte reduziert werde. So könnten „Hunderte von Stunden“ an potenziell unnötiger Arbeit eingespart werden.
Das Nichterscheinen bei den EU-Meetings „werden den Beamten Zeit geben, sich auf unseren Austritt am 31. Oktober vorzubereiten und die sich dabei bietenden Möglichkeiten zu nutzen“, fügte Barclay hinzu.
Die britische Europaabgeordnete Catherine Bearder (ALDE) kritisierte hingegen, die Ankündigung sei „eine sinnlose Geste, die von der Innenpolitik getrieben wird. Sie wertet unsere Mitgliedschaft in der EU ab und zeigt nichts als Verachtung für unseren Einfluss in Brüssel sowie für unsere Verbündeten.“
Helsinki übernimmt
Tatsächlich hatte das Vereinigte Königreich seine Präsenz in Brüssel nach dem Brexit-Referendum 2016 sogar erhöht; die Zahl der britischen Beamten bei der EU stieg von rund 100 auf mehr als 150.
Aus EU-Sicht könnte sich nun die Problematik ergeben, dass die Nichtteilnahme eines (noch) einflussreichen Mitgliedstaates wie des Vereinigten Königreichs die Entscheidungsfindung behindert: Stimmenthaltungen könnten die Ergebnis bei EU-Voten verzerren, so die Befürchtung.
Um ein solches Szenario zu vermeiden, wird das Vereinigte Königreich wohl sein Stimmrecht in Sitzungen, an denen es nicht teilnimmt, an Finnland übertragen, das derzeit den rotierenden Vorsitz im EU-Rat innehat. Das geht aus einem Schreiben hervor, das EURACTIV einsehen konnte.
Brexit-Unterhändler David Frost teilte seinen diplomatischen Kollegen in der Notiz mit, Finnland werde eine Bevollmächtigung für die britische Stimme erhalten und solle sie „in einer Weise nutzen, die die EU nicht daran hindert, voranzukommen“.
Der schottische EU-Abgeordnete Alyn Smith (Grüne/EFA) wies auf Twitter darauf hin, dass das Vereinigte Königreich, ein Land mit mehr als 66 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, somit seine Entscheidungskraft an eine Nation mit einer Bevölkerung von lediglich fünf Millionen abgetreten habe.
In der Regierungserklärung wurde derweil bekräftigt, dass Premierminister Boris Johnson an den Sitzungen des Europäischen Rates weiterhin teilnehmen wird.
Allerdings bedeutet dies nach dem aktuellen Zeitplan der Regierung faktisch, dass Johnson wohl lediglich zu einem einzigen Treffen mit seinen 27 EU-Kollegen zusammenkommen wird: auf dem Gipfeltreffen, das am 12. und 13. Oktober in Brüssel stattfinden soll.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]