Nach zähem Ringen wurde am 8. Dezember eine Einigung über zentrale Fragen der ersten Verhandlungsphase präsentiert. Eine Woche später machte der Europäische Rat den Weg für die zweite Phase frei, in der auch über die zukünftigen Beziehungen gesprochen werden soll. Über den Stand der Verhandlungen sprach EURACTIV mit Bert Van Roosebeke.
Dr. Bert Van Roosebeke ist Fachbereichsleiter am Centrum für Europäische Politik in Freiburg (cep). Seine Themenschwerpunkte sind Digitale Wirtschaft, Finanzmärkte und Informationstechnologien.
EURACTIV: Herr Van Roosebeke, am 15. Dezember hat der Europäische Rat „ausreichende Fortschritte“ in den zentralen Fragen des Austritts festgestellt und damit den Weg für Gespräche über die zukünftigen Beziehungen freigemacht. Warum war diese Sequenzierung für die EU so wichtig?
Bert Van Roosebeke: Ich denke, es ging der EU vor allem darum, einen Abschreckungseffekt gegenüber potenziellen Nachahmern zu bewirken. Es wurde ja damals befürchtet, dass auch andere Länder wie Ungarn, Polen oder Dänemark sich für einen Austritt entscheiden. Durch die Sequenzierung hat man es Großbritannien gezielt schwer gemacht, indem man verlangt hat, in schwierigen Fragen Zugeständnisse zu machen und viel Geld auf den Tisch zu legen ohne zu wissen, wie die künftigen Beziehungen aussehen würden. Dieses Vorgehen hat zu einer langen Phase der Unsicherheit geführt.
Gab es nach Ihrer Einschätzung tatsächlich die Gefahr weiterer Austritte und wie sieht das heute aus?
Es ist schwer, die Wahrscheinlichkeit solcher Gefahren rational einzuschätzen. Am Beispiel Polen sehen wir, dass es schwerwiegende Differenzen mit der EU gibt. Aber ob es so weit kommen könnte, das Polen als großer Empfänger von EU-Geldern tatsächlich austritt, weiß ich nicht. Die Gefahr wurde nach dem Brexit-Referendum jedenfalls durchaus gesehen. Sie ist grundsätzlich immer noch da, aber sie ist kleiner geworden.
In den Fällen Dänemark, Schweden und Irland geht es weniger um Differenzen mit der EU, dafür aber um sehr enge wirtschaftliche Beziehungen zu Großbritannien. Gegen einen Austritt Irlands spricht, dass das Land auch Mitglied der Eurozone ist. Ob die Gefahr eines Austritts dieser Länder ernsthaft steigt, hängt nun davon ab, was die zweite Verhandlungsphase bringt.
Werfen wir einen Blick zurück auf die erste Phase. Unter anderem ging es um die Rechte der Unionsbürger in Großbritannien und umgekehrt. Worauf haben sich beide Seiten in diesem Punkt geeinigt?
Auf wenig Konkretes. Es gibt viele sehr offene Formulierungen, aber keine Detailklärungen. Und auf die wird es am Ende ankommen. Entscheidend wird sein, dass die politische Einigung in juristische Texte übersetzt wird, die mehr Klarheit bringen. Politisch hat sich Großbritannien zu weitgehenden Aufenthaltsrechten für EU-Bürger bekannt. Für manche Bevölkerungsgruppen werden diese jedoch zeitlich begrenzt sein. Undeutlichkeit besteht noch was die genaue Rolle des EuGH angeht. Großbritannien verpflichtet sich jedenfalls, die EuGH-Rechtsprechung über Rechte der Bürger, die bis zum Zeitpunkt des Austritts entstanden ist, ohne zeitliche Einschränkung zu respektieren. Aber welche Bindungswirkung spätere EuGH-Urteile haben werden, bleibt offen.
Dieses Fehlen von abschließender Klarheit zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Bereiche des Joint Reports [in dem die Vereinbarungen aus der ersten Phase festgehalten wurden]. Alles andere wäre wohl auch zu viel erwartet. Die EU hat wohl einsehen müssen, dass die Strategie der zweistufigen Verhandlung Großbritannien zu viel abverlangt hat. Von London Zusagen und Entscheidungen von großer finanzieller Tragweite zu verlangen, ohne Wissen darüber, wie die Gegenleistung in Form des künftigen Handelsvertrags aussieht, ist viel verlangt. Wir sehen nun eine gewisse Korrektur dieses Kurses. Die EU hat ihr Abschreckungsziel vorerst erreicht und akzeptiert nun, dass die genauen Details erst geklärt werden, wenn auch die Gespräche über die zukünftigen Beziehungen fortgeschritten sind.
Gehen wir die drei Punkte der ersten Phase weiter durch. Punkt zwei ist die Austrittsrechnung. Die EU ging von 60 Milliarden Euro aus, Großbritannien von 20 Milliarden. Nun hat man sich auf eine Methode geeinigt und viele Beobachter erwarten eine Abschlussrechnung von 45 bis 55 Milliarden. Heißt das, die EU hat sich durchgesetzt? Und sind diese Zahlen valide?
Auch wenn die Briten auf die EU zugegangen sind, lässt der Joint Report noch einige Fragen offen. Es ist zu früh einzuschätzen, ob es am Ende rund 50 Milliarden sein werden. Unklar ist auch, was das Übergangsabkommen für die Austrittsrechnung bedeutet. Geplant ist ja eine voraussichtlich zweijährige Übergangsphase nach dem Brexit, während der die Briten weiter in den EU-Haushalt einzahlen. Letzteres ist zwar im Joint Report festgehalten, aber ob die Briten das an Bedingungen bei der Gestaltung des Übergangsabkommen knüpfen werden, ist offen. Wie das am Ende alles zusammen geht, lässt sich noch nicht absehen.
Der dritte Punkt, die Nordirlandfrage, wurde letztlich in die zweite Phase verschoben. Großbritannien hat zwar zugesagt, dass es keine harte Grenze auf der irischen Insel geben wird, will aber die Zollunion verlassen. Kann das funktionieren?
Es gibt drei Ziele, die kaum gleichzeitig zu erreichen sind: Eine harte Grenze zu vermeiden, die Zollunion zu verlassen und der territoriale Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs zu wahren. Mir fehlt die Fantasie, eine für alle Seiten tragbare Lösung zu finden, das scheint mir eine Sache der Unmöglichkeit.
Sie hatten bereits das Übergangsabkommen angesprochen. Beide Seiten wollen es, um der Wirtschaft Sicherheit zu geben. Gibt es in diesem Zusammenhang noch große politische Konflikte?
Ja. Soweit wir es heute einschätzen können, wird die EU fordern, dass während der Laufzeit des Übergangsabkommens das EU-Recht von Großbritannien zu 100 Prozent akzeptiert werden muss – einschließlich neuer Richtlinien, Verordnungen und EuGH-Urteile. Davon werden die Briten nicht begeistert sein, denn beim Brexit ging es ja auch sehr stark darum, sich dem EU-Recht nicht mehr unterordnen zu müssen.
Ein weiterer Konfliktpunkt könnten die Beitragszahlungen sein. London hat sich jetzt zwar dazu verpflichtet, 2019 und 2020 in den EU-Haushalt einzuzahlen, aber ich bezweifele, dass die Diskussion darüber schon zu Ende ist. Um das Übergangsabkommen wird es noch viel Streit geben. Zudem muss es in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Ob es zustande kommt, ist daher alles andere als sicher.
Offenbar gibt es bisher wenige Lösungen und noch viele offene, konfliktträchtige Fragen. Der harte Brexit ist noch nicht vom Tisch, oder?
Nein, der harte Brexit ist noch nicht vom Tisch. Wenn man die wirklich extrem schwierige Nordirlandfrage mal ausklammert, halte ich es zwar nicht für besonders problematisch, dass bei Punkten wie den Bürgerrechten oder der finanziellen Abwicklung noch Fragen offen sind. Das liegt in der Natur der Sache. Die EU hatte einen extrem formalistischen Ansatz, als sie diese Punkte abgelöst vom Rest verhandeln wollte. So funktioniert Politik nicht. Nun wurde dieser Ansatz korrigiert und ich bin zuversichtlich, dass sich hier in den nächsten Jahren eine Lösung finden lässt. Gleiches gilt für die Frage der künftigen Beziehungen, also das Freihandelsabkommen zwischen EU und Großbritannien.
Die schwierigere Frage ist, ob sich diese Einigung dann auch politisch verkaufen lässt. Dafür wird es eine Regierung in London brauchen, die eine ausreichende parlamentarische Mehrheit und genügend Unterstützung in der Bevölkerung hat. Da muss seitens der Regierung noch viel nachgedacht und auch erklärt werden. Gelingt das nicht, kann auch eine Einigung zwischen Brüssel und London durchaus zurückgewiesen werden. Deshalb ist der harte Brexit auch nicht vom Tisch.