Frankreichs neuer Premierminister Michel Barnier ist in Europa beileibe kein Unbekannter. Die ersten Reaktionen auf die Ernennung des ehemaligen EU-Kommissars und Brexit-Unterhändlers sind dabei wohlwollend – trotz seines jüngsten euroskeptischen Schwenks.
In Frankreich, wo der Präsident mehr Macht hat als die Staats- und Regierungschefs der benachbarten EU-Staaten, erregen Premierminister normalerweise selten internationales Interesse.
Die Ernennung Barniers zum Premierminister am Donnerstag (5. September) hat jedoch eine Reihe von Reaktionen der europäischen Staats- und Regierungschefs hervorgerufen.
Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gratulierte dem 73-Jährigen umgehend.
Dem ehemaligen Brexit-Verhandlungsführer lägen „die Interessen Europas und Frankreichs am Herzen, wie seine langjährige Erfahrung beweist“, schrieb sie auf X. Sie wünsche ihm des Weiteren „viel Erfolg bei seiner neuen Aufgabe.“
Als zweimaliger EU-Kommissar, der bekanntlich die Brexit-Taskforce 50 der EU leitete, ist Barnier es gewohnt, mit europäischen Staats- und Regierungschefs sowie mit hochrangigen Beamten der EU-Kommission zusammenzuarbeiten.
Zu letzteren gehören der Generaldirektor für Wettbewerb, Olivier Guersent, der in Barniers Zeit als Binnenmarktkommissar dessen Bürochef war, sowie die Generaldirektorin für Handel, Sabine Weyand, Barniers rechte Hand in der Brexit-Taskforce.
Vor allem kennt Barnier aber auch Stéphanie Riso, die frühere Strategiedirektorin in der Brexit-Taskforce und heutige Generaldirektorin für Haushalt. Diese Beziehung könnte sich als nützlich erweisen, da gegen Frankreich ein Defizitverfahren eröffnet wurde und der Haushalt des Landes im Minus ist.
Aus Berlin mit Liebe
Barniers Ernennung wurde auch in Deutschland begrüßt.
Er sei erfreut, sagte der europapolitische Sprecher der CDU (EVP), der Schwesterpartei von Barniers Les Républicains, Gunther Krichbaum, gegenüber Euractiv.
„Mit ihm hat Frankreich einen überzeugten und erfahrenen Europäer an der Spitze, der als EU-Kommissar viele scheinbar festgefahrene Verhandlungen erfolgreich zum Abschluss gebracht hat, beispielsweise zum Brexit“, sagte er.
„Seine Wahl ist eine gute Entwicklung für Deutschland und für Europa.“
Auch von Regierungsseite kamen positive Töne.
Der Präsident der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung, SPD-Außenpolitiker Nils Schmid, sagte Euractiv, dass „Präsident Macron mit Michel Barnier als zukünftigem französischen Regierungschef einen überzeugten Europäer gewählt hat.“
Er lobte Barnier auch für seine politische Erfahrung. Der Franzose sei ein „Gewinn für die bilateralen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland.“
Ein EU-liebender Euroskeptiker?
Das Lob ist umso bemerkenswerter, da Barnier zuletzt eher europaskeptische Äußerungen getätigt hatte. Bei den Vorwahlen der Les Républicains für die französische Präsidentschaftskandidatur im Dezember 2021 plädierte er beispielsweise dafür, dass nationales Recht in der Migrationspolitik Vorrang vor EU-Recht haben solle.
Barniers euroskeptische Äußerungen scheinen auch nicht über den Ärmelkanal gekommen zu sein. Viele auf der anderen Seite des Brexit-Verhandlungstisches sehen Barnier immer noch als überzeugten Europäer, der kompromisslos EU-Regeln durchsetzt.
Barnier sei aber nicht feindselig gegenüber dem Vereinigten Königreich, und im Gegensatz zu dem, was Brexiteers glaubten, sei er sogar bis zu einem gewissen Grad anglophil, so der ehemalige Labour-Abgeordnete Richard Corbett.
„Barnier wird eine Stimme sein, die bereit ist, die britische Position zurückzudrängen, wenn sie die Integrität der EU gefährdet“, sagte Jim Brunsden, Leiter des makropolitischen Teams bei FleishmanHillard Brussels, gegenüber Euractiv.
„Man kann keinen Binnenmarkt à la carte haben“, sagte Barnier noch letzte Woche in einem Gespräch mit Euractiv.
In Macrons Schatten
Dennoch bleibt die Ernennung Barniers ein Paradoxon.
„Für mich ist es merkwürdig, dass Barniers Stärke die EU-Angelegenheiten sind, Macron aber die Vorrangstellung der französischen EU-Politik behalten will“, sagte Lord Peter Ricketts, Vorsitzender des Europaausschuss des britischen Oberhauses, auf X.
„Und Barnier hat keine Erfahrung als Minister oder Abgeordneter für Finanzen und Haushalt, was seine größte Herausforderung sein wird, einschließlich der Aufrechterhaltung des Vertrauens der Märkte.“
Auch wenn es Barnier nicht gelingen sollte, dem Schatten des mächtigen Präsidenten zu entkommen, ist Philipp Lausberg, Politikexperte am European Policy Centre, der Meinung, dass die Wichtigkeit der Außenpolitik derzeit nicht überbewertet werden sollte.
„Sein Hauptaugenmerk wird sicherlich auf dem Haushalt und dem Zusammenhalt der Koalition liegen“, so Corbett. Er glaubt ebenfalls, dass Barnier sich hauptsächlich auf nationale Themen konzentrieren wird.
Selbst in Bezug auf die Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich – Barniers Stärke – sieht Corbett keine unmittelbaren Auswirkungen von Barniers Ernennung auf diese Beziehungen. Der britische Premierminister Keir Starmer hat bereits sein Interesse an einer Wiederbelebung der Beziehungen zur Union bekundet.
„Wenn es um die Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich geht, ist in jedem Fall der Rat zuständig, und im Falle Frankreichs ist das eher Macron als Barnier.“
[Bearbeitet von Daniel Eck/Alice Taylor-Braçe/Nick Alipour]