Mit der deutschen Einheit hat auch die europäische Staatenwelt eine völlige Neuordnung seiner politischen Architektur erfahren: Ohne die Wiedervereinigung gäbe es keinen Euro, keine Verträge von Maastricht, Nizza und Lissabon; es gäbe nicht die „Europäische Union“, wie wir sie heute haben. Aber trotz aller Vertiefungs- und Vereinigungsbestrebungen: Europa ist kein Staat, sondern ein Staatenbund, eine Vertragsgemeinschaft.
Gerhard Losher war von 2008-2017 Leiter der Europaredaktion des Bayerischen Rundfunks, Fernsehen und ARD Europakorrespondent vertretungsweise. Danach Wechsel in unternehmensstrategische Funktion. Publizist und Autor von Beiträgen mit Schwerpunkt Finanz- und Europapolitik.
Der dafür erforderliche Bedarf an demokratischer Legitimation ist zwangsläufig geringer als bei einem Nationalstaat. Dies betrifft insbesondere das Europäische Parlament: Eine weitere „Parlamentarisierung“ ist der falsche Weg. Seine eigentlichen Aufgaben liegen mehr im aufsichtlichen als im legislativen Bereich.
Wie kam es zu „Maastricht“, „Nizza“ und „Lissabon“?
Die Idee „Europa“ startete als neuartiges Kriegsverhinderungsprojekt und hatte als oberste Maxime: Konfliktvermeidung durch Ressourcenteilung (Kohle, Stahl, Atom) und wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Basis eines gemeinsamen Marktes. Der Zug zu einem gemeinsamen Europa nahm nur langsam an Fahrt auf. Gelegentliche Äußerungen von Adenauer oder Churchill wie „Union“ oder „Vereinigte Staaten von Europa“ waren Utopien oder bestenfalls Visionen für eine ferne Zukunft. Es waren die europäischen Organe, die die europäische Integration in einer Art „Selbstregulierung“ vorantrieben: Der EuGH, indem er in zwei Urteilen das europäische Gemeinschaftsrecht über das Recht der Nationalstaaten stellte (dazu Dieter Grimm: „Europa ja, aber welches?“). Des Weiteren die Konstituierung des Binnenmarktprinzips unter der Kommission von Jacques Delors, die defacto mit Berufung auf das Prinzip der „Wettbewerbsgleichheit“ einen Großteil nationaler Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten unter einen gesamteuropäischen Rahmen stellte.
Erst mit dem Zusammenbruch des Ost-West Systems 1989 kam eine neue Dynamik auf: Die weltpolitische Neuordnung erfasste zwangsläufig auch Europa. Unter dem maßgeblichen Antrieb von Helmut Kohl und Francois Mitterrand – der anfängliche Widerstand Margret Thatchers wurde mit Unterstützung des US-Präsidenten George Bush überwunden – entstand das neue Projekt, der „Europäischen Union“: Mit gemeinsamer Währung, Zusammenfassung der bis dahin unter der Maßgabe „Wettbewerbsgleichheit“ entstandenen Einzelregulierungen sowie einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Bis dahin nannte sich Europa noch „EG“ und bestand aus nur 12 Mitgliedsstaaten.
Ist die Europäische Union ein Staat?
Für die Vertiefung der europäischen Integration war das der entscheidende Sprung. Gleichzeitig wurden die Rechte des Europäischen Parlaments massiv aufgewertet und das politische Verhältnis im Institutionen Dreieck zwischen Europäischer Kommission, Rat und Parlament neu definiert und abgegrenzt. Europa erscheint damit wie eine parlamentarische Demokratie. Aber ist es auch ein Staat? Und wenn nein, welchen Sinn macht dann eine parlamentarische Demokratie?
Zur Frage der Staatsdefinition gilt nach wie vor die 3-Elementen Lehre des Staatsrechtlers Georg Jellinek: Ein Staat wird begründet durch die Einheit von „Staatsgebiet“ (feste Grenzen), „Staatsgewalt“ (konstitutionelle Regierung) und „Staatsvolk“. Aber zumindest letzteres, das „Staatsvolk“ oder „Staatsgemeinschaft“, ist im „Fall Europa“ nicht gegeben´. Darüber sind sich die Staatsrechtler weitgehend einig. Es fehlt an einer gemeinsamen Kommunikation, einer „europäischen“ Öffentlichkeit, einer gemeinsamen Geschichte und gemeinsamer europastaatlicher Identifikation.
Europa ist kein Staat sondern eine Vertragsgemeinschaft. Ein Staatenbund. Es gab zwar vielfältige Bestrebungen in Politik und Verwaltung, staatsähnliche Strukturen zu schaffen. Aber wenn damit die Auffassung verbunden war, dass mit der Einrichtung bestimmter, für einen demokratisch verfassten Staat erforderlicher Institutionen (Parlament, Regierung /Kommission etc.) auch automatisch ein entsprechendes Staatswesen entstünde, so ist das nicht eingetreten. Ähnlich ist es mit der These, dass ein totalitäres Staatswesen wie z.B. China, sich automatisch zu einer Demokratie entwickle, wenn es denn liberalkapitalistische Marktmechanismen annehme.
„Mehr Europa“ bedeutet Souveränitätsverzicht durch die Nationalstaaten – „Verstaatung“ abgelehnt
Dass keine europäische Staatlichkeit entstehen konnte, liegt im Wesentlichen an der fehlenden Bereitschaft der Mitgliedsstaaten, eigene nationale Souveränität abzugeben. Zwar wurde mit dem Vertrag von Maastricht (1992) erstmals eine staatenähnliche Hülle geschaffen und für die bevorstehenden Erweiterungen in den Verträgen von Amsterdam (1997) und Nizza (2001) modifiziert; zuletzt sollte sogar das ganze Vertragswerk in einem furiosen Finale durch einen neuen „Römischen Vertrag“ (2004) zu europäischem Verfassungsrang erhoben werden. Aber der Souverän spielte nicht mit. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ waren nicht vermittelbar, in Frankreich und den Niederlanden wurde das Verfassungsreferendum abgelehnt.
Anstatt daraus die Lehren zu ziehen und zu einer Europaidee zu finden die der – inzwischen um 10 Mitglieder erweiterten – europäischen Staatengemeinschaft vermittelbar wäre verfiel man auf den Trick, das beabsichtigte europäische Staatsmodell, nachdem es per Verfassungsreferendum nicht erreichbar ist, eben als Staatsvertrag zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten zu realisieren. So entstand der Lissabon Vertrag (2007).
Im Rückblick erweist sich die Zielvorgabe der „Vertiefung“ der europäischen Integration hin zu einer „Verstaatung“ als Irrweg. Der Brexit ist kein singuläres Phänomen. Dass die nationalstaatlichen Identitäten eine Verstaatung ablehnen, haben die Verfassungsreferenden bereits gezeigt. Aber inzwischen wollen auch unter den nationalen Eliten, den Regierungen, die in der Vergangenheit die europäische Idee hochgehalten haben, einzelne von der Stange springen und eigene nationale Wege gehen. Sie sehen Europa nicht mehr als Solidar- und Rechtsgemeinschaft sondern als Topf mit üppigen Fördermitteln. Das ist eine neue Qualität, die man nicht einfach ignorieren kann.
Die Zukunft Europas: Verstaatung oder Aufgabengemeinschaft
Vor diesem Hintergrund ist auch die Aufgabe des Europäischen Parlaments differenziert zu bewerten: Wenn die EU kein Staat ist, sondern eine Vertragsgemeinschaft, dann liegt auch die Funktion des Parlaments zwangsläufig stärker im aufsichtlichen als im legislativen Bereich. Machtspielchen wie der „Spitzenkandidatur Streit“ sind da fehl am Platz und gehören in die Kategorie europapolitischer Atavismus.
Aber auch wenn sich das Konstrukt eines „Vereinigten Europas“ im Moment als überholt erweist: Die Idee eines gemeinsamen Europas ist notwendiger denn je! Allerdings mit neuem Narrativ: Nicht mehr als „Kriegsvermeidungsinstrument“ im „Alten Europa“ sondern als Überlebensstrategie in einer neuen, globalisierten Welt. Das atlantische Bündnis hat ausgedient, inzwischen kämpft Amerika allein mit China um weltweite Vorherrschaft. Europa hat das Potential, als dritte Kraft im Spiel zu bleiben und nicht zwischen beiden Blöcken zerrieben zu werden. Aber nur wenn es zu gemeinsamen Handeln findet. Und nicht zu vergessen: Auch Russland ist Bestandteil Europas.
Emmanuel Macron hat einen möglichen Weg aufgezeichnet: Die EU als Projekt- und Aufgabengemeinschaft. Es werden nicht alle Mitgliedsstaaten alle Projekte gemeinsam begleiten. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Vertiefung wird unvermeidbar sein, wie es in der Euro-Währungsgemeinschaft ja bereits besteht. Die Handlungsfelder sind vielfältig und überlebensnotwendig: Klimapolitik, Digitalisierung, Migration, Sicherheit und Verteidigung, Infrastruktur, Wirtschaft, Bildung und vieles mehr.
Es gibt keine Alternative zur Europäischen Union
Zurück zum 3. Oktober: Die deutsche Wiedervereinigung hat die enorme Dynamik eines Integrations- und Vertiefungsschubs für Europa in Gang gebracht, was dann in den Vertragswerken von Maastricht bis Lissabon zur Umsetzung kam. Ob dabei, wie Historiker fragen, der drive eher von französischer Seite, Mitterand, kam, um das erstarkte Deutschland in einem europäischen postnationalen Staatensystem zu bändigen, oder von Helmut Kohl mit seinen Europavisionen, ist ohne Belang. Wahrscheinlich war es eher Kohl. Auf seiner Feier zum 60. Geburtstag am 3. April 1990, zu einem Zeitpunkt im deutschen Schicksalsjahr, in dem der Gang zur Wiedervereinigung eröffnet, aber das Ergebnis noch nicht erkennbar ist, spricht er in der Bonner Beethovenhalle von einem „großen Stück Weg“, das er noch vor sich habe: Die Vollendung der deutschen Einheit, die er als Zeitfenster in der Gunst der Geschichte sieht. Und von der Vertiefung der europäischen Integration. Dabei dachte er wohl an ein föderales System vereinigter Staaten ähnlich dem Modell Deutschlands. Dazu ist es nicht gekommen, konnte es nicht kommen. Aber die Strukturen, die dabei geschaffen wurden, bieten den notwendigen Handlungsspielraum für die Bewältigung der großen Herausforderungen, die vor uns liegen.