Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) hat am Montag in einer hitzigen Debatte im EU-Parlament ihre Unterstützung für den bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow bekräftigt.
Die Debatte über „Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in Bulgarien“ fand während der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Brüssel als Reaktion auf eine beispiellose Protestwelle im ärmsten EU-Land statt: Tausende bulgarische Bürgerinnen und Bürger gehen seit nunmehr 90 Tagen immer wieder auf die Straßen, um den Rücktritt Borissows und des Generalstaatsanwalts Iwan Geschew aufgrund angeblicher Korruption zu fordern.
Die beiden hätten die staatlichen Institutionen geschwächt und mächtige Oligarchen im Land begünstigt, so die Vorwürfe.
Viele Bulgarinnen und Bulgaren vertrauen den EU-Institutionen mehr als ihrer eigenen Regierung. Die gestrige Parlamentsdebatte wurde daher im Land mit großem Interesse verfolgt. Wut gab es dementsprechend angesichts mehrerer technischer Probleme, die viele daran hinderten, die Sitzung online zu verfolgen.
In einer hitzigen Debatte kritisierten Abgeordnete der linken, sozialdemokratischen, grünen und liberalen Parteien die bulgarische Regierung wegen der Rückschritte im Bereich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie angesichts des angeblichen Missbrauchs von EU-Geldern.
Im Gegensatz dazu verteidigten Vertreter der konservativen EVP-Fraktion, der Borissows GERB angehört, den bulgarischen Regierungschef als proeuropäischen Führer.
Der CSU-Politiker Manfred Weber, EVP-Fraktionsvorsitzender im EU-Parlament, verfasste vor der Sitzung einen Tweet, der bereits darauf hindeutete, dass die EVP weiter zu Borissow und der GERB steht. Weber schrieb unter anderem, die bulgarische Regierung habe gewisse Fortschritte auf dem Weg in Richtung Euro- und Schengenzonen gemacht.
Die Menschen auf den Straßen hätten das Recht, zu protestieren, eine Entscheidung über eine neue Regierung solle aber erst mit den nächsten Wahlen im März 2021 gefällt werden, so Weber weiter.
Good talk with @BoykoBorissov on Bulgaria today. @EU_Commission rule of law assessment was fair, showing improvements are needed. However, government has advanced on many topics helping it towards #Euro #Schengen. Protesters are respected but ordinary March elections will decide.
— Manfred Weber (@ManfredWeber) October 5, 2020
Während der Debatte im Parlament verteidigten die GERB-Abgeordneten Andrej Kowatschow und Andrej Nowakow die Regierung Borissow. Beide teilten insbesondere gegen ihre bulgarischen Kolleginnen und Kollegen, die „den Namen und guten Ruf Bulgariens beschmutzt“ hätten.
Der deutsche Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth, reagierte darauf und betonte, derartige Debatten dienten nicht der Nestbeschmutzung, sondern seien essenziell notwendig. Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft habe die Rechtsstaatlichkeit absolute Priorität; „sie steht ganz oben auf der Tagesordnung,“ so Roth. Er lobte die Demonstrierenden in Bulgarien, die „friedlich für unsere Werte kämpfen und deshalb Solidarität verdienen“.
Die EVP-Führung beschloss ihrerseits derweil, ihrem eigenen Europaabgeordneten Radan Kanew (von der Partei Demokratisches Bulgarien) nicht das Wort zu erteilen. Kanew gilt als scharfer Kritiker Borissows.
Daniel Freund (Grüne, Deutschland), der sich persönlich ein Bild vor Ort in Sofia gemacht hatte, erklärte, er wolle dem EU-Parlament eine Botschaft überbringen, die er in der bulgarischen Hauptstadt verstärkt vernommen habe: „Bitte stoppt die Zahlung der EU-Gelder. Nur so nehmt ihr den gierigen Oligarchen ihren schwarzen Kaviar weg.“
Claire Daly (GUE/NGL, Irland) verglich die bulgarische Führung mit Vampiren, die EU-Gelder aussaugen. Sie kritisierte außerdem Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel und den EVP-Parteivorsitzenden Donald Tusk scharf, weil diese an „ihren Leuten“, also Borissow und der GERB, festhielten.
Elena Jontschewa (S&D, Bulgarien) gab ebenfalls eine scharfe Stellungnahme ab, in der sie sich an die deutsche Ratspräsidentschaft wandte und fragte: „Wie lange will der EU-Rat noch schweigen?“
Ramona Strugariu (Renew Europe, Rumänien) sagte, diejenigen, die immer noch die Regierung Borissow unterstützen, würden „ein sehr gut etabliertes Netzwerk aus Menschen verteidigen, die die Demokratie missbrauchen“.
Bulgarien wird im Transparency International Index als der korrupteste Mitgliedsstaat der EU eingeschätzt. Laut Reporter ohne Grenzen ist das Land in Sachen Medienfreiheit von Platz 51 im Jahr 2007, als es der Union beitrat, auf Platz 111 abgerutscht.
Im Laufe dieser Woche soll es im EU-Parlament derweil eine weitere Abstimmung über einen Resolutionsentwurf geben, der Bulgarien wegen Mängeln bei der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit kritisiert. Obwohl die Abstimmung keine direkten Konsequenzen für die Regierung Borissow haben dürfte, würde sie zumindest ein Signal aussenden, dass Brüssel nicht die Augen verschließt.
Im Gegensatz zu Ungarn und Polen konnte Bulgarien ein formelles EU-Verfahren wegen Nichteinhaltung der Rechtsstaatlichkeit bisher vermeiden, indem die Regierung Änderungen versprach und Gremien zur Bekämpfung der Korruption und zur Reform des Justizwesens einrichtete. Konkrete Ergebnisse lassen allerdings auf sich warten.
In ihren kürzlich veröffentlichten Berichten über die Rechtsstaatlichkeit in der gesamten EU kritisierte die Europäische Kommission – wenn auch in deutlich milderem Ton – die Mängel Bulgariens in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Tatsache, dass gegen mehrere hochrangige Beamte nicht wegen Korruption ermittelt werde.
Am gestrigen Montag kündigte die zuständige EU-Kommissarin Věra Jourová an, die EU-Exekutive werde die Überwachung Bulgariens fortsetzen, bis man greifbare Ergebnisse bei der Korruptionsbekämpfung und der Reform des Justizwesens sehe. „Es gibt noch unvollendete Dinge. Wir wollen, dass die Arbeit erledigt wird,“ sagte sie.
[Bearbeitet von Frédéric Simon und Tim Steins]