Mehr Digitalisierung, weniger Arbeit? Genau das Gegenteil ist der Fall, warnt die Europäische Kommission in ihrer jährlichen Reformempfehlung an die Mitgliedsstaaten. Sie mahnt Deutschland, Arbeit attraktiver zu machen und stärker in Bildung zu investieren. Gleiches rät auch ein neuer IIASA-Report, der Zukunftsszenarien für Europas Demographie skizziert.
Europa im Jahr 2060. Die Bevölkerung über 65 Jahren stellt dann 32 Prozent der Gesellschaft – im Vergleich zu rund 20 Prozent heute, prognostiziert der neue Report „Demographic Scenarios for the EU. Migration, Population and Education“. Zumindest, wenn sich der aktuelle Trend wie gehabt fortsetzt. Rechnet man derzeitige Migrationsdynamiken dazu, klettert der Anteil auf 34 Prozent. Verdoppelt sich die Zahl der Immigrierenden hingegen, sinkt der Prozentsatz der über 65-Jährigen auf 29 Prozent, so die Wissenschaftler vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) und der Gemeinsame Forschungsstelle (GFS) der Europäischen Kommission in ihrer Analyse.
Aus der niedrigen Schwankung schließen sie: Es müsse also umso intensiver in Bildung investiert werden. Damit sollen mehr Menschen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen und die Quote der Erwerbstätigen an jene von Schweden angepasst werden. Mehr Menschen, die länger arbeiten, so das Ziel. Dieses Rezept könne die Gesellschaft auf die Veralterung vorbereiten.
„Warum soll in Österreich und Italien nicht dieselbe Erwerbsquote möglich sein wie in Schweden und Finnland? Klar, stumpfsinnige Jobs will man nicht bis ins hohe Alter weiterführen, aber mit sinnvoller Arbeit steigt die Zufriedenheit sogar“, so Wolfgang Lutz, Direktor des World Population Program am IIASA und Hauptautor der Studie.
Ein weiterer Hebel für Erhaltung einer alternden Gesellschaft liegt in der Angleichung der Teilhabe von Frauen und Männer am Arbeitsmarkt. Schon allein, wenn sie gleichermaßen beschäftigt würden, sänke der Anteil der arbeitenden Bevölkerung nur geringfügig. Dann kämen auf 100 Arbeitende 123 zu erhaltende Menschen – im Vergleich zu 108 zu 100 heute. Würde sich der Trend allerdings so fortsetzen, wie bisher, stiege die Zahl der Abhängigen auf 133. Mithilfe von umfassenderen Integrationsmaßnahmen könnte diese auf 126 gesenkt werden.
Das ist auch einer der zentralen Punkte der aktuellen länderspezifischen Empfehlungen der EU-Kommission. So sagte ein Kommissions-Beamter gegenüber EURACTIV mit Blick nach Deutschland: „Es müssen unbedingt jene stärker einbezogen werden, die bis jetzt noch weniger beteiligt sind. Das sind vor allem Frauen und Migranten.“ Deutschland müsse mehr Anreize schaffen, länger zu arbeiten. So solle etwa die direkte Besteuerung auf Arbeit gesenkt und stattdessen indirekte Steuerabgaben erhöht werden.
Auch sei es ein Paradox, dass Deutschland zwar eine sehr niedrige Arbeitslosenquote habe, Löhne jedoch kaum wachsen würden, so der Beamte.
Der hohe deutsche Leistungsbilanzüberschuss – in den vergangenen Jahren Sorgenkind Nummer eins in den EU-Reformempfehlungen – sei heute ein weniger dringliches Problem. Er ist von über 8 Prozent vor wenigen Jahren, auf aktuell 6,7 Prozent gefallen, wobei 6 Prozent vorgesehen sind. Grund für den langsamen Ausgleich ist die steigende Binnennachfrage, sowie mehr Investitionen sowohl des privaten als auch des öffentlichen Sektors.
Stattdessen liegt der Fokus der Kommission jetzt bei Versäumnissen in puncto Bildung. So bleiben die öffentlichen Bildungsausgaben Deutschlands im Jahr 2017 mit 4,1 Prozent hinter dem Unionsdurchschnitt von 4,6 Prozent zurück. Auch sei die soziale Mobilität nach oben im deutschen Bildungssystem „eher selten“, kritisiert die Kommission.
„Da ohnehin schon beträchtlicher Lehrermangel herrscht, müssen angesichts der zunehmend heterogenen Klassenverbände große Anstrengungen zur Verstärkung des Lehrkörpers unternommen werden“, schreibt sie. 7,5 Millionen Menschen ohne grundlegende Lese- und Schreibekompetenz – doch Bildung sei der Schlüssel für den zukünftigen Erfolg am Arbeitsmarkt. Nicht im Leistungsbilanzüberschuss, sondern in Versäumnissen der Bildungspolitik läge Deutschlands große Hürde für die Zukunft, kommentierte der Beamte.