Großbritannien schien kurz davor zu sein, die Gespräche über ein Handelsabkommen mit der EU abzubrechen, nachdem Premierminister Boris Johnson am heutigen Freitag kritisierte, die EU habe „die Idee eines Freihandelsabkommens aufgegeben“.
Ohne „eine fundamentale Änderung der Herangehensweise“ der EU würde Großbritannien sich dafür entscheiden, den künftigen Handel mit dem Block ab Januar zu den Bedingungen der Welthandelsorganisation abzuwickeln, sagte Johnson. London werde nun seine Vorbereitungen für ein „No-Deal“-Szenario intensivieren.
In seiner Erklärung warf Johnson der EU vor, sie habe sich „in den letzten Monaten lange Zeit geweigert, ernsthaft zu verhandeln“.
„Da dieser Gipfel ein Abkommen nach kanadischem Vorbild ausdrücklich auszuschließen scheint, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir uns bis zum 1. Januar auf eine neue Situation vorbereiten sollten,“ stellte Johnson klar. Wenn sich nichts ändert, werde es wohl auf Handelsbeziehungen wie zu Australien hinauslaufen, also ohne Vertrag, so Johnson.
„Sie wollen weiterhin die Möglichkeit haben, unsere gesetzgeberische Freiheit, unsere Fischerei, in einer Weise zu kontrollieren, die für ein unabhängiges Land völlig inakzeptabel ist“, fügte er hinzu.
Großbritannien hat den Block offiziell im Januar verlassen, und die Übergangsphase nach dem Brexit, während der es Teil des EU-Binnenmarktes bleibt, endet Ende dieses Jahres.
Nachdem die britische Wirtschaft von der COVID-19-Pandemie schwer getroffen wurde, wird für das Jahr 2020 ein Abschwung von zehn Prozent prognostiziert, gefolgt von einer Erholung von 7,6 Prozent im Jahr 2021. Anfang dieser Woche warnte die OECD, dass ein „ungeordneter“ Austritt aus der EU am Ende der Brexit-Übergangsperiode für Großbritannien „erhebliche negative Auswirkungen auf Handel und Arbeitsplätze haben würde“.
Die harte Rhetorik von Johnson überraschte die EU-Beamten jedoch nicht. Die Verhandlungen sollen nächste Woche trotzdem in London fortgesetzt werden.
🇪🇺-🇬🇧 talks: the EU continues to work for a deal, but not at any price.
As planned, our negotiation team will go to London next week to intensify these negotiations.
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) October 16, 2020
Als Reaktion auf Johnsons Erklärung schrieb die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, auf Twitter, dass „die EU weiterhin auf eine Einigung hinarbeitet, aber nicht um jeden Preis“.
„Wie geplant wird unser Verhandlungsteam nächste Woche nach London reisen, um diese Verhandlungen zu intensivieren“, fügte sie hinzu.
Auf dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates nahmen die Staats- und RegierungschefInnen der EU eine ähnliche Haltung wie Johnson ein und forderten von London weitere Kompromisse und Zugeständnisse, wenn eine Einigung erzielt werden soll.
In einer gemeinsamen Erklärung forderten die EU-27 ihren Chefunterhändler Michel Barnier auf, „die Verhandlungen in den kommenden Wochen fortzusetzen“, stellten aber „mit Besorgnis fest, dass die Fortschritte in den wichtigsten Fragen, die für die Union von Interesse sind, noch nicht ausreichen, um eine Einigung zu erzielen“.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bekräftigte, dass für ihn die Fischerei-Frage besonders wichtig ist. „Auf keinen Fall werden unsere Fischer die Opfer des Brexit sein“, so der französische Regierungschef. Sie müssten weiter Zugang zu britischen Gewässern erhalten.
Die Fischquoten und insbesondere der Umfang des Zugangs von EU-Fischern zu den Gewässern des Vereinigten Königreichs bleiben die größten Streitpunkte in den Verhandlungen.
Nichtsdestotrotz sind sich London und Brüssel in den Bereichen staatliche Beihilfen und „gleiche Wettbewerbsbedingungen“ näher gekommen.
Der britische Verhandlungsführer Frost zeigte sich „überrascht“ darüber, „dass alle künftigen Schritte von Großbritannien kommen müssen“. Dies sei „eine ungewöhnliche Herangehensweise, um Verhandlungen zu führen“, schrieb er auf Twitter.
„Aus welchem Grund auch immer, aus dem Gipfeltreffen geht klar hervor, dass sie (die EU) nach 45 Jahren Mitgliedschaft nicht bereit sind, diesem Land nach einer grundlegenden Änderung des Ansatzes die gleichen Bedingungen wie Kanada anzubieten“, beklagte Johnson.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic]