Nach dem Katz-und-Maus-Spiel mit Griechenland, dem Guter-Bulle-böser-Bulle-Spiel im Ukrainekonflikt und der Leitrolle in der Flüchtlingskrise muss Berlin feststellen, dass es keine Macht über die geopolitische Bedrohung Brexit hat. EURACTIV Brüssel berichtet.
Der Ausgang des Brexit-Referendums am 23. Juni bereitet der Bundesrepublik großes Kopfzerbrechen. Ein EU-Austritt Großbritanniens würde die europäische Integration untergraben – das Großprojekt, mit Hilfe dessen Deutschland seine Nachkriegsidentität aufbauen konnte. Ein Brexit würde auch das Mächtegleichgewicht in der EU aushebeln und einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, dem andere Länder folgen könnten.
In einem informellen Abkommen einigten sich die europäischen Regierungen, den Haussegen zu wahren. Deutschlands Politiker halten sich also aus dem Wahlkampf vor dem Referendum heraus. Denn sie fürchten, man könnte ihnen nachsagen, sie würde die Briten herumkommandieren. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, hofft auf einen Verbleib in der EU, unterstreicht jedoch, dass „natürlich“ das britische Volk zu entscheiden habe. Obwohl man in den Berliner Korridoren der Macht weiß, dass man sich besser aus der Angelegenheit raushält, fürchten viele, einen gleichgesinnten Verfechter der freien Marktwirtschaft zu verlieren.
„Wir drücken alle die Daumen“, bestätigt David McAllister, Landesvorsitzender der CDU in Niedersachsen und halbgebürtiger Schotte. „Sie würden uns wirklich fehlen.“
Ein weiteres hochrangiges CDU-Mitglied äußerte sich noch etwas direkter zu einer EU ohne Großbritannien. „Alle werden sagen, [die EU] sei ein Club der Verlierer. Wir brauchen ein Gegengewicht zu Frankreich. Wenn das Abstimmungsergebnis negativ ausfällt, haben wir wirklich ein massives Problem“, so das Mitglied der Christdemokraten.
Deutschland möchte, dass Großbritannien in der EU bleibt. Dieser Wunsch äußerte sich unter anderem auch darin, dass die Bundesrepublik dem britischen Premierminister David Cameron half, im Februar einen Reform-Deal mit sämtlichen EU-Staats- und Regierungschefs abzuschließen. Dieser räumt Großbritannien einen Sonderstatus innerhalb der Gemeinschaft ein. In vielen EU-Ländern verstärkte das Abkommen Londons Ruf als fragwürdiger EU-Partner. Für die Bundesrepublik überwiegen jedoch die positiven Beiträge des Vereinigten Königreichs: der außenpolitische Einfluss, die Entwicklung des EU-Binnenmarktes, die Einschränkung des EU-Haushaltes, der Kampf gegen die Bürokratie und die Förderung des freien Handels.
Aller guten Dinge sind drei
Die Vorstellung in einer kleineren EU mit Frankreich allein als einziger weiteren Großmacht zu agieren, scheint Berlin nicht besonders zu behagen. Das traditionelle deutsch-französische Gleichgewicht hat sich aufgrund der wirtschaftlichen Probleme Frankreichs verschoben. Großbritannien bringt den Ausgleich.
„In diesem Falle ist eine Dreierbeziehung definitiv stärker als eine Zweierbeziehung – vor allem wenn ein Partner mehr oder weniger auf dem Zahnfleisch geht“, erklärt Michael Browning, Analyst der Friedrich Ebert Stiftung. Auch der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter (CDU), Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, ist überzeugt, dass die EU vom britischen Einfluss profitiert. „Die EU ist sehr stark vom französischen Ansatz geprägt“, betont er und verweist auf die Bürokratie von oben. „Der britische ergebnisorientierte Pragmatismus entspricht eher unserem Ansatz.“ Als Beispiel nennt er dabei die Einschränkungen der Zulagen für Beschäftigte aus anderen EU-Staaten. „Deutschland wollte das eigentlich auch durchsetzen, hat sich aber nicht getraut aus Angst, andere könnten sich über die ‘reichen Deutschen’ beschweren“, so Kiesewetter.
Angstfaktor
So ganz konnte sich Merkel mit ihrer Meinung nicht zurückhalten. Großbritannien werde nicht gut dabei wegkommen, wenn es die EU verließe, deutete sie letzte Woche an. Das Gewicht der EU, aber auch das Vertrauen in ihre Kohäsion und Standhaftigkeit würden drastisch einbrechen, warnt auch Vizekanzler Sigmar Gabriel.
Großbritannien half der Bundesrepublik dabei, außenpolitisch eine Rolle anzunehmen, die ihrer wirtschaftlichen Stärke entspricht. Deutschlands Ambitionen werden jedoch durch die Aussichten auf einen womöglich Brexit geschmälert. Es befürchtet nämlich, ein Austritt könnte es Russland ermöglichen, mehr Einfluss auf die dann destabilisierte EU zu nehmen. „Es wäre ein Erfolg für Russland“, bekräftigt Kiesewetter. „Es kann nicht in Deutschlands nationalem Interesse liegen, dass ein Brexit die EU schwächt und die Bundesrepublik stärkt.“ Dieser Auffassung ist fast das gesamte politische Establishment in Berlin. CDU-Generalsekretär Peter Tauber fasst die allgemeine Einstellung recht treffend zusammen: „Europa ist nur gemeinsam stark. Die Briten sind Teil davon.“