Ein Jahr nach der Wahl von Jean-Claude Juncker zum Chef der EU-Kommission befindet sich das Europaparlament im Umbruch: Junckers neuer Führungsstil gibt den Abgeordneten neue politische Macht – zugleich gehen die Volksvertreter bei einem Scheitern des Luxemburgers als größter Verlierer vom Platz, meint Jean-Monnet-Professor Michael Kaeding.
Michael Kaeding ist Jean-Monnet-Professor für Europäische Integration und Europapolitik an der Universität Duisburg-Essen. Zudem lehrt Kaeding am Europakolleg in Brügge. Kaedings Forschungsschwerpunkte sind die Umsetzung von EU-Recht in den europäischen Mitgliedsstaaten, klassische und alternative Formen der europäischen Entscheidungsfindung sowie der Einfluss der EU auf nationale Verwaltungsstrukturen. Er ist Mitherausgeber des jüngst erschienen Buches „Die Europawahl 2014- Spitzenkandidaten, Protestparteien und Nichtwähler“.
EURACTIV.de: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat nach seinem Amtsantritt am 15. Juli 2014 vor allem eins versprochen: Er wollte die politischste EU-Kommission führen, die es je gab. Hat er sein Versprechen gehalten?
KAEDING: Die EU-Kommission ist deutlich politischer geworden. Das sieht man bereits an der Zusammensetzung des Kollegiums: Noch nie gab es so viele Kommissare mit politischen Spitzenkarrieren, mit Frans Timmermans noch nie einen so einflussreichen Ersten Vizepräsidenten. Zudem agiert Juncker selbst politisch und ist Beleg dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen Stimmenabgabe bei der Europawahl und der Wahl des Kommissionspräsidenten gibt.
Was bedeutet Junckers Ernennung für das EU-Parlament?
Die Zusammenarbeit zwischen Parlament und Kommission wurde deutlich gestärkt. Die Juncker-Kommission schöpft ihre Legitimität aus dem Parlament und das Parlament sieht die Kommission als ihre Kommission an. In den großen politischen Fragen greift die Kommission daher sehr viel mehr als in der Vergangenheit die Haltung des Parlaments auf. So hat sie beispielsweise gegen den Willen der Mitgliedsstaaten einen mutigen Vorschlag für eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge gemacht. Auch in der Griechenlandkrise ist sie zu mehr Zugeständnissen gegenüber der griechischen Regierung bereit und liegt damit bei beiden Themen eindeutig auf der Linie des Parlaments. Die Juncker-Kommission funktioniert als verlängerter Arm des Parlaments.
Auf der anderen Seite gibt es ja viel weniger Gesetzesvorschläge…
Die Juncker-Kommission hat versprochen, sich nur noch um die großen Themen zu kümmern und weniger Gesetze zu erlassen. Das Versprechen hat sie gehalten. Sie hat sogar Gesetzesvorhaben zurückgezogen. Neben der gewachsenen politischen Macht des Parlaments, könnte es sich in Zukunft etwa mehr technischen Regulierungsstandards widmen, die einen großen Einfluss auf das Funktionieren des Binnenmarkts und damit auch für den Bürger haben. Zudem könnten die Parlamentsausschüsse vermehrt der Frage nachgehen, inwiefern europäische Gesetze den erhofften Effekt auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene entfalten konnten – Stichwort „Dienstleistungsrichtlinie“.
Neben der inhaltlichen Ebene, hat das Konzept der Spitzenkandidaten auch Auswirkungen auf das Machtgefüge zwischen Kommission und EU-Parlament?
Das Parlament versteht es, die Juncker-Kommission über den Spitzenkandidatenprozess an sich zu binden. Es gibt aufgrund einer Neuverteilung der Abstimmungsmacht im Europaparlament eine verstärkte inter-institutionelle Annäherung zwischen Parlament und Kommission, die es so vorher nicht gab. Das macht sich unter anderem darin bemerkbar, dass die Kommission ein größeres machtpolitisches Interesse daran hat, vor allem die großen Fraktionen ständig über die Kommissare der jeweiligen Parteifamilien zu informieren um später Probleme mit dem Parlament zu vermeiden.
Welche Implikationen hat der Spitzenkandidaten-Prozess für die Europawahl 2019?
Der Nominierung von Spitzenkandidaten – so wie sie 2014 stattgefunden hat – sollte 2019 beibehalten werden. Auf diese Weise bleibt ein Zusammenhang zwischen Stimmabgabe und Wahl des Kommissionspräsidenten bestehen.
Worauf wird es ankommen?
Es hängt alles davon ab, wie erfolgreich Junckers Kommissionspräsidentschaft wird. Sollte Junckers Arbeit Früchte tragen, wird auch der Spitzenkandidaten-Prozess als Erfolg gewertet und wird die erstmalig verwendete Auslegung des Artikel 17 Absatz 7 EUV dauerhaft Bestand haben. Im nächsten Schritt wird das auch eine stärkere parteipolitische Ausrichtung der Wahlkämpfe befördern, weil sich die europäischen Parteifamilien auf die tatsächliche Relevanz ihrer Spitzenkandidaten berufen könnten.
Und wenn Juncker scheitert?
Dann wird vor allem das EU-Parlament als Verlierer vom Platz gehen, da es seine Glaubwürdigkeit an die Politikgestaltungskraft der Kommission gekoppelt hat. Scheitert Juncker, wird das argumentativ gegen eine Verstetigung des Verfahrens von 2014 genutzt werden.
Wie schlägt sich eigentlich das EU-Parlament selbst nach der Europawahl? Wir wissen ja, dass besonders die rechten und linken Ränder des politischen Spektrums hinzugewonnen haben.
Nach wie vor wird das Europaparlament von den beiden großen Fraktionen, der EVP und der sozialdemokratischen S&D, dominiert, wenngleich sich beide Fraktionen seit letztem Jahr auf Augenhöhe begegnen. Zugleich gibt es eine Neuverteilung der Abstimmungsmacht: Sowohl Mitte-links als auch Mitte-rechts-Koalitionsoptionen sind machtpolitische Makulatur. Für Erstere gibt es keine Mehrheit, für Letztere sind die politischen Differenzen zu groß geworden – die EVP sträubt sich zunehmend mit den EKR zusammenzuarbeiten, weil dort europakritische Parteien wie die AfD und die Dänische Volkspartei vertreten sind. Die Große Koalition aus EVP und sozialdemokratischer S&D ist bedeutsamer denn je.
Was bedeutet das für die Entscheidungsfindung?
Die Veränderungen machen sich vor allem innerhalb der jeweiligen Fraktionen bemerkbar. Da die Mehrheiten knapp sind, kommt den nationalen Delegationen innerhalb der beiden größten Fraktionen eine besondere Rolle zu. Dies zeigen die letzten Abstimmungen zu TTIP, dem Türkei-Fortschrittsbericht oder der Strategie für eine sichere europäische Energieversorgung deutlich.
Welche Nationalität profitiert von dieser Entwicklung am meisten?
Die deutschen Delegationen sind die Nutznießer, da sie zum einen zu den größten nationalen Delegationen gehören. Vor allem aber treten sie sehr geschlossen auf und entfalten damit große politische Macht. Würde sich beispielsweise die 34 CDU- und CSU-Abgeordneten geschlossen dem Fraktionszwang der EVP widersetzen, wäre die absolute Mehrheit aus EVP und S&D in Gefahr.
Das kann nicht im Sinne der Fraktionen sein…
Darum wird seit ein paar Monaten durch Verfahrensänderungen verstärkt auf die Fraktionsdisziplin hingearbeitet. Koordinatoren- und Berichterstatterposten beispielsweise werden nur noch an aktive und fraktionslinientreue Abgeordnete vergeben. Etwas, das wir aus dem Bundestag kennen, aus dem Europaparlament aber bislang nicht. Damit ist auch zu erklären, warum bei den letzten Abstimmungen Abgeordnete vermehrt nicht zur Abstimmung kamen. Sie weichen der Fraktionsdisziplin aus.
Haben die links- und rechtspopulistischen Abgeordneten ihre Wahlerfolge eigentlich in politisches Kapital ummünzen können?
Stellten europaskeptische Parteien in der vergangenen Legislaturperiode noch knapp 20 Prozent der Abgeordneten, sind es jetzt bereits 30 Prozent. Trotz ihres europaweiten Siegeszuges konnten sie dies allerdings machtpolitisch nicht nutzen. Vor allem auch weil sie nicht geschlossen auftreten. Das trifft nicht nur auf die AfD zu. Der Front National um Marine Le Pen und die PVV Gert Wilders beispielsweise haben im letzten Jahr bei nur 60 Prozent der Abstimmungen ein einheitliches Votum abgegeben. Die Werte für UKIP und der 5-Sterne-Bewegung liegen sogar nur bei 29 Prozent. Zur Erinnerung, die innere Kohärenzwerte der größten Fraktionen liegen um die 90 Prozent.
Ein Gewinn an Sitzen ist also nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit einem Gewinn an Abstimmungsmacht?
Absolut richtig. Alles in allem obsiegen weiterhin pro-europäische Fraktionen deutlich bei den Abstimmungen auch im neuen Parlament. Die liberale ALDE bespielsweise ist zwar nur noch viertstärkste Fraktion, gewinnt aber mit knapp 90 Prozent die meisten Abstimmungen.
Nun hat Marine Le Pen eine neue Rechtsfraktion gegründet. Müssen die Abgeordneten demokratischer Parteien Angst haben?
Richtig ist, dass es nun auch den fremdenfeindlichen Europagegner gelungen ist, Fraktionsstatus zu erlangen. Sie vereint ein ausgeprägter Skeptizismus gegenüber Einwanderer. Nun fehlte nur noch, dass es auch den gewaltbereiten Europafeinden und Antidemokraten gelingt, eine Fraktion zu bilden. Ob die Abgeordneten pro-europäischer Fraktionen allerdings Angst haben müssen ? Nein, nur wenn ihr Gesamtanteil weiter zunimmt und die inneren Kohärenzwerte der europaskeptischen Fraktionen in Zukunft deutlich steigen. Danach sieht es aber im Moment nicht aus.