Egoismen und ein Beharren auf Maximalpositionen prägen auch heute noch das Verhalten der politischen Akteure der Türkei, schreibt Gülistan Gürbey. Dass Kompromisse zum demokratischen Prozess gehören und eine konstruktive Herangehensweise erfordern, ist noch nicht zum integralen Bestandteil des politischen Alltags geworden.
Die Türkei hat am 7. Juni 2015 gewählt: Die seit 2002 regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ist zwar mit 40,9 Prozent der Wählerstimmen nach wie vor die stärkste politische Kraft. Sie konnte aber die seit 2002 in drei Wahlen nacheinander verbuchte absolute Mehrheit nicht mehr bewahren und verlor rund 9 Prozent der Wählerstimmen gegenüber der Parlamentswahl von 2011 (49,9 Prozent). Einen herausragenden Sieg verbuchte hingegen die kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). Sie erreichte 13,1 Prozent der Wählerstimmen und schaffte die 10-Prozent Wahlhürde und erstmals als Partei den Einzug ins Parlament. Nicht zuletzt konnte auch die rechtsnationalistische MHP (Nationalistische Aktionspartei) ihre Wählerstimmen von 12,9 Prozent im Jahr 2011 auf 16,3 Prozent steigern, während die national-kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) mit 25 Prozent der Wählerstimmen weiterhin stagnierte und gegenüber der Parlamentswahl von 2011 (25,9 Prozent) leichte Verluste hinnehmen musste.
Scharf geführter Wahlkampf und aggressive Wahlrhetorik
Politische und gesellschaftliche Polarisierung sowie aggressive Wahlrhetorik kennzeichneten den lebhaften Wahlkampf. Nicht Inhalte, sondern Personen bestimmten den Wahlkampf. Auch blieb der Wahlkampf von Gewaltakten nicht verschont, wovon in erster Linie die kurdische HDP betroffen war.
Die AKP rückte die Themen Verfassungsänderung, Präsidialsystem, Lösungsprozess und wirtschaftliche Megaprojekte in den Mittelpunkt und führte eine mit nationalistisch und religiöser Rhetorik unterfütterte Wahlkampagne, um ihre Ziele die absolute parlamentarische Mehrheit zu erreichen und den Einzug der HDP in das Parlament zu verhindern. Trotz verfassungsrechtlicher Verpflichtung zu politischer Neutralität unterstützte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan aktiv die Wahlkampagne seiner AKP mit landesweiten Auftritten. Er machte die Parlamentswahlen zur Abstimmung über die Einführung des Präsidialsystems und als Stimmungstest für sich als die Spitze eines solchen Systems.
Im Fokus der aggressiven Rhetorik Erdogans und der AKP stand vor allem die kurdische HDP und ihr Co-Vorsitzender Selahattin Demirtas. Um die Partei und Demirtas zu diskreditieren, kulminierten die verbalen Angriffe in massive Diffamierungen, wie z. B. „Befehlsinhaberin der terroristischen PKK“, „wer die HDP wähle, wähle die Terroristen“, „Einzug der HDP bedeute Ende des Lösungsprozesses“, „Ungläubige“.
Der autoritäre Kurs von Erdogan und die Macht der AKP standen hingegen im Zentrum der Wahlkampagnen von CHP und MHP. Die Parlamentswahl betrachteten sie als eine Abstimmung gegen die Einführung des Präsidialsystems und den Machtzuwachs von Staatspräsident Erdogan und der AKP. Deshalb waren die Parlamentswahlen öffentlich zu alles entscheidenden „Richtungs- und Schicksalswahl“ erklärt: Entweder gewinnt die AKP eine Mehrheit, die ihr die Möglichkeit zur Verfassungsänderung und Einführung eines autoritären Präsidialsystems mit Erdogan an der Spitze gibt, oder die Oppositionsparteien bekommen genügend Stimmen, um dies zu verhindern. Vor allem die kurdische HDP wurde zum Zünglein an der Waage: Ihr Erfolg bedeutete Verluste der AKP.
Dämpfung des autoritären Kurses und des Machtzuwachses der AKP
Die wesentlichen Resultate dieser Wahlen sind:
– Die AKP bleibt trotz starker Verluste stärkste Partei und einziger landesweit bestimmender politischer Akteur. Sie hat ihre Ziele nicht erreicht. Ohne die absolute parlamentarische Mehrheit hat sie zunächst keine Möglichkeit, die Verfassung zu ändern und das Präsidialsystem einzuführen. Sie muss nunmehr die Macht teilen und ein weiterer Machtzuwachs wird nicht mehr einfach werden. Den autoritären Staats- und Regierungskurs, den die Partei und Staatspräsident Erdogan in den letzten Jahren massiv forciert hatten, wird sie nicht mehr freizügig fortführen können. Die brutale Zerschlagung der Gezi-Proteste, die Verabschiedung von Sicherheitspaketen, die Einschränkungen von Presse- und Meinungsfreiheit, die vor allem auf Kosten der Umwelt umgesetzte neo-liberale Wirtschaftspolitik, aber auch die Syrien-Politik hatten die Unzufriedenheit mit der AKP-Regierungspolitik signifikant gesteigert. Dies spiegelte sich nunmehr in den Wahlergebnissen deutlich nieder.
– Obwohl die AKP auf Nationalismus setzte, um Wähler aus dem nationalistischen Pool der MHP zu halten und neue zu akquirieren, ist diese Strategie nicht aufgegangen. Denn im Gegenteil ist die MHP gestärkt aus den Parlamentswahlen hervorgegangen und drei Prozent zugelegt. Mit dem Vorwurf „Verrat nationaler Interessen“ und „verdeckte Koalition mit der HDP“ – die sie als verlängerten Arm der PKK sieht – griff sie die AKP an, um zuvor an die AKP abgewanderte Wähler zurückzugewinnen. Dies ist ihr gelungen.
– So wie MHP setzte auch die CHP betont auf eigene Wirtschaftsthemen wie z.B. Anhebung des Mindestlohns, um ein eigenes Profil zu schaffen. Dennoch gelang es der CHP nicht, von der Stagnation loszukommen und ihre Wählerstimmen zu steigern.
Erstarken der kurdischen HDP als neue Hoffnungsträgerin für mehr Demokratie
Gewinnerin dieser Parlamentswahl ist jedoch die kurdische HDP. Demirtas und seine HDP führten unter erschwerten Bedingungen den Wahlkampf. Sie waren nicht nur Zielscheibe der verbalen Angriffe der AKP und von Staatspräsident Erdogan. Während des Wahlkampfes kam es zu mehr als 100 gewalttätigen Angriffen auf Wahlbüros und -veranstaltungen der HDP, darunter Bombenanschläge auf die Wahlkampfbüros in Mersin und Adana sowie auf die Schlusskundgebung der HDP in Diyarbakir. Dennoch verdoppelte die HDP ihre Wählerstimmen und schaffte den Einzug ins Parlament. Im Zentrum ihrer Wahlkampagne standen im Vergleich zu den übrigen Parteien die Themen Demokratie, Pluralismus und Frieden. Dies spiegelte sich auch in den Kandidatenauswahl der unterschiedlichsten politischen und sozialen Bewegungen nieder. Mit diesen Themen und einem substantiell partizipatorischen Ansatz gelang es der HDP, neben kurdischen auch neue Wähler im Westen des Landes zu mobilisieren. Sie wurde zum Sammelbecken für alle diejenigen gesellschaftlichen, politischen und ethnischen Gruppen, die sich vom Rest der Parteien nicht vertreten fühlten, wie z.B. linke und liberale Kräfte, Homosexuelle, Umweltaktivisten, Frauenbewegung, junge Menschen, ethnische Minderheiten.
Darüber hinaus konnte die HDP ihre kurdischen Wählerstimmen aus dem konservativ-religiösen Spektrum im Südosten und Osten des Landes zurückgewinnen, die sie zuvor an die AKP verloren hatte. Damit konsolidierte sie ihre traditionelle kurdische Wählerschaft im Südosten und Osten. Mit religiöser Rhetorik und Infragestellung der Frömmigkeit der HDP versuchte die AKP diese Wähler zu halten, was ihr aber nicht gelang. Nicht zuletzt erhielt die HDP strategisch motivierte Wählerstimmen wie z.B. aus der CHP, um eine verfassungsändernde Mehrheit der AKP zu verhindern.
Der Wahlsieg der HDP eröffnet Chancen auf eine Demokratisierung des Wahlsystems und für den Prozess zur friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts. Er macht die aus der Zeit der Militärjunta stammende und weltweit höchste 10-Prozent Sperrklausel politisch zunichte. Das Militär hatte mit dieser Sperrklausel verhindern wollen, dass die Kurden in das Parlament einziehen. Genau das ist aber jetzt passiert. Die Kurden haben erstmals als Partei diese Sperrklausel überwunden und den Einzug ins Parlament geschafft. Damit hat die HDP nicht nur ihr Ziel erreicht, sondern auch die Sperrklausel obsolet gemacht. Die Chancen für eine Abschaffung dieser Sperrklausel dürften ab jetzt günstiger liegen. Zugleich hat die Integration der Kurden in das politische System und die signifikante politische Aufwertung der HDP auch positive Wirkung auf den Friedensprozess im türkisch-kurdischen Konflikt, der nach wie vor ein prioritäres Ziel der HDP ist. Die HDP ist aber auch die einzige politische Kraft, die im Gegensatz zur CHP und MHP die seit Republikgründung gewachsene autoritäre Staatstradition gänzlich ablehnt, das heißt nicht nur jene Version a la AKP, sondern auch jene der Kemalisten und Nationalisten. Vor allem durch ihren überzeugenden und erfolgreich angewandten partizipatorischen und pluralistischen Demokratieansatz wurde die HDP zu einer echten Hoffnungsträgerin für mehr Demokratie und Pluralismus. Welche Performanz die HDP nach den Parlamentswahlen an den Tag legen wird und ob sie sich als eine Mitte-links Volkspartei etablieren wird, bleibt jedoch abzuwarten.
Regierungskoalitionen und erhöhtes Risiko politischer Instabilitäten
Das Wahlergebnis stärkt die Rolle des Parlaments gegenüber der zuvor strikten Kontrolle durch Regierung und Staatspräsident. Gleichwohl erschwert die hohe politische Polarisierung die Regierungsbildung und macht vorgezogene Neuwahlen wahrscheinlich. Bereits in der Vergangenheit waren Regierungskoalitionen Ausdruck politischer Instabilität, was vor allem auf die Unfähigkeit und fehlende Bereitschaft zur Schließung von Kompromissen zurückzuführen war. Daran hat sich bis heute nichts substanzielles geändert, bedenkt man wie der von der AKP gestartete Prozess der Änderung der Verfassung letztendlich im Sande verlaufen ist. Egoismen und ein Beharren auf Maximalpositionen prägen auch heute noch das Verhalten der politischen Akteure. Dass Kompromisse zum demokratischen Prozess gehören und eine konstruktive Herangehensweise erfordern, ist noch nicht zum integralen Bestandteil des politischen Alltags geworden. Darin liegt eine der wesentlichsten Herausforderungen für eine neue Regierungskoalition, sofern sie eine politische Stagnation vermeiden und einen demokratiepolitischen Aufbruch starten will. Dies betrifft vor allem die zentrale Frage der Verfassungsänderung sowie der Fortführung und inhaltlichen Unterfütterung des Friedensprozesses, um die Demokratisierung substantiell voranzubringen. Diese Entwicklungsprozesse sind auch für den EU-Beitrittsprozess von Bedeutung, der zwar als strategisches Ziel bleiben wird, aber dessen Perspektive zu einem wesentlichen Teil von der Performanz der neuen Regierung abhängen wird.
Die Autorin
Privatdozentin Dr. habil. Gülistan Gürbey
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft/Freie Universität Berlin