Schlecht ernährte Flüchtlinge in Abschiebelagern, Behinderung von Asylanträgen, Übergehen der Rechte von türkischen Gemeinden: Im hochumstrittenen Flüchtlingsabkommen mit der Türkei treten immer mehr bedenkliche Details zutage. Berichte von Beobachtern vor Ort zeigen das Ausmaß der Verstöße gegen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Grüne Hügel, ein paar Häuser hier und da, Viehweiden, und eine riesige Baustelle. Hier, in der Nähe der zentralanatolischen Stadt Maras, soll bis September ein Flüchtlingslager für 27.000 syrische Flüchtlinge entstehen, als Teil des umstrittenen Deals, den die EU und die Türkei im März geschlossen haben. Alle irregulär in die EU eingereisten Flüchtlinge sollen demnach wieder in die Türkei zurückgeschickt werden. Ankara erhält insgesamt sechs Milliarden Euro, unter anderem für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen.
Doch die Bewohner der Region Maras – etwa 3000 Menschen in insgesamt 32 Dörfern – sind besorgt, um ihre eigene Zukunft und die der Flüchtlinge. Gründe gibt es mehrere, sagt Kadir Sahin, der als Teil einer Delegation der Alevitischen Gemeinde zu Berlin Ende April die Lage vor Ort begutachtete und dokumentierte.
25 von den dortigen 32 Dörfern sind ausschließlich von Aleviten bewohnt – einer von der türkischen Regierung diskriminierten Minderheit, wie vor einigen Wochen auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigte. „Diese Region ist die einzige in der Türkei, in der Aleviten bislang gut leben können“, sagt Sahin im Gespräch mit EURACTIV.de. Doch das Weideland, das von den Bewohnern mehrerer Dörfer gemeinsam genutzt wurde, sei ihnen, dirigiert unter der Leitung der türkischen Katastrophenschutzbehörde „AFAD“, ohne Vorwarnung oder Entschädigung genommen worden.
Wie der Ort für das Camp ausgewählt wurde, weiß niemand in der Region. Auf eine Sammelklage der Dörfer gegen den Bau und eine Anfrage eines örtlichen Abgeordneten folgt seit dem Baubeginn vor mehr als vier Monaten keinerlei Stellungnahme der Regierung, berichtet der Vorsitzende der Berliner Aleviten-Gemeinde, Halit Büyükgöl. Mehrere Verfahren laufen nun gegen die Regierung, unter anderem wegen der Zerstörung alevitischer Kulturstädten auf dem Areal und der Vernichtung der wirtschaftlichen Grundlage für die Dorfbewohner.
„Türkische Regierung ignoriert Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit“
„Die Menschen in Maras würden ihre Häuser jederzeit für Flüchtlinge öffnen, aber sie fordern von der Regierung, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit beachtet werden“, sagt Büyükgöl, der ebenfalls vor Ort war. Es könnte zu Konflikten zwischen den mehrheitlich sunnitischen Flüchtlingen und den alevitischen Einheimischen kommen, in dem Flüchtlingslager könnten gezielt Anhänger des IS untergebracht werden, so die Sorgen der Dorfbewohner. Für sie sei klar: Der Bau ist Teil einer konfessionalisierten Siedlungspolitik der AKP-Regierung, der die Minderheit aus dem Land drängen soll. Friedliche Proteste von mindestens 8000 aus dem ganzen Land angereisten Menschen seien von der Polizei brutal aufgelöst worden, Pressevertreter sind nicht erwünscht, berichtet Büyükgöl.
Auf der anderen Seite sehen die Menschen in Maras das Elend für die künftig anzusiedelnden Flüchtlinge kommen: Denn mit dem Beginn der Camp-Bauarbeiten startete in der Region auch der Bau mehrerer Fabriken, vor allem von Textilunternehmen. „Die Großunternehmer begrüßen die Ansiedlung von Flüchtlingen“, sagt Sahin. Der Grund dafür lasse sich in anderen Regionen der Türkei beobachten: Schutzsuchende bekommen im Vergleich zu Einheimischen in der Regel einen Hungerlohn. So sei für beide Seiten eine bedenkliche Entwicklung zu befürchten.
Sklavenähnliche Bedingungen für Flüchtlinge
Dass immer mehr Flüchtlinge in der Türkei unter sklavenähnlichen Umständen arbeiten, ist nicht neu. „In der südosttürkischen Stadt Gaziantep, wo in einem Flüchtlingscamp rund 300.000 Syrer leben, wird Schwarzarbeit unter entsetzlichen Löhnen gefördert“, berichtet die Linke EU-Parlamentarierin Cornelia Ernst gegenüber EURACTIV.de. Sie hatte kürzlich gemeinsam mit den EU-Abgeordneten Marina Albiol Guzmán und Josu Juaristi mehreren türkische Flüchtlingslager, darunter die Abschiebelager Kırklareli und Edirne sowie die Flüchtlingscamps Gaziantep und Kilis besucht.
Illegale Beschäftigung floriert in der Nähe aller Camps. Registrierte Syrer können in der Türkei zwar inzwischen eine Arbeitserlaubnis beantragen, doch der Großteil scheitert an den hohen Hürden. Die meisten Flüchtlinge halten sich daher mit Schwarzarbeit über Wasser. Die spanische EU-Abgeordnete Guzmán berichtete nach der Reise: „Sie werden ausgenutzt, selbst zehnjährige Kinder müssen in Fabriken arbeiten.“
Wie lange die Menschen in dieser Situation leben müssen, ist nicht klar. Der UNHCR nennt derzeit Wartezeiten von sieben Jahren, ehe Flüchtlinge in ihr Aufnahmeland einreisen können. Solange müssen sie in der Türkei warten und überleben.
„Alle Flüchtlinge, die wir gefragt haben, sagten, man habe ihnen keine Möglichkeit gegeben, in der Türkei Asyl zu beantragen, so Cornelia Ernst. Schon in Griechenland würden die Schutzsuchenden keine Informationen erhalten, wie sie einen Antrag stellen können.
Schlecht ernährt und ohne Rechtsbeistand
Zudem untersuche Griechenland nicht alle Asylbegehren ordentlich, so Ernst. Von dort abgeschobene unbegleitete Minderjährige, Transgender aus dem Iran, Geflüchtete aus Pakistan – sie alle landeten zum Teil in türkischen Abschiebelagern, wo sie schlecht ernährt werden, und trotz ihrer Rechte keinen Rechtsbeistand bekämen, so Ernst. „Nicht einmal telefonieren dürfen diese Menschen. Sie sind rechtlos und sitzen fest.“
Das bestätigt auch ein neuer Bericht der türkischen Menschenrechtsorganisation Mülteci-Der („Der Flüchtlingsverein“), einer Partner-Organisation der deutschen Pro Asyl: „Den Inhaftierten werden ihre Rechte nicht hinreichend klar gemacht“, heißt es darin. Ein Verfahrenstricks der Behörden sei es, den Menschen Schreibgeräte zu verwehren. „Asylanträge müssen schriftlich vorgebracht werden, aber der Zugang zu Schreibmaterialien ist meist unmöglich“, stellt Mülteci-Der fest. Andere Organisationen berichten, Rechtsanwälten werde immer wieder der Zugang zu Flüchtlingslagern verwehrt. Auch einer von Pro Asyl beauftragten Rechtsanwältin wurde der Zugang verweigert.
Die Parlamentarierin Ernst mahnt darum: Obwohl das der Genfer Flüchtlingskonvention widerspricht, seien sich die türkischen Behörden keiner Schuld bewusst. Und niemand habe der Türkei bisher gesagt, dass sie etwas falsch macht. „Darum ist die EU in der Pflicht – auch zu überprüfen, wie die EU-Mittel in der Türkei genutzt werden“, sagt sie. Auch wenn EU-Kommission und -Rat den Deal mit Ankara nun nicht mehr ein Abkommen nennen, sondern eine „Erklärung“ – weder die EU noch die Türkei können sich dann beschweren, falls sich das andere Land nicht an seinen Zusagen hält-, bleibe laut Ernst eine Frage: „Ist die EU wirklich bereit, auf ihre Werte zu spucken?“