Diverse Spediteure haben bereits erste Kostenrechnungen in Bezug auf die neuen Grenzregelungen angestellt. Die erste Woche des Lebens mit einem Großbritannien außerhalb des EU-Binnenmarktes sei geprägt von Verspätungen und Unterbrechungen der Lieferketten gewesen.
Die Lobbygruppe Road Haulage Association (RHA) forderte am Freitag die britische und die irische Regierung auf, einige der neuen Grenzregeln für den Handel über die Irische See zu lockern. Diese besagen, dass Waren, die von Großbritannien nach Nordirland und in das EU-Mitglied Republik Irland transportiert werden, einer Zollkontrolle unterzogen werden müssen.
Die damit einhergehenden Probleme hätten „zu leeren Regalen in einigen Supermärkten geführt. Lkw werden aufgrund von bürokratischen Problemen in den Häfen aufgehalten und die Situation verschlimmert sich,“ warnt die RHA. Weiter hieß es, man sei „mit einem unflexiblen, schwerfälligen und zeitraubenden Prozess konfrontiert sind. Dabei geht es doch eigentlich nur darum, Waren zu bewegen.“
Die befürchteten Mega-Staus, insbesondere in den Häfen im englischen Dover und im französischen Calais, sind hingegen weitgehend ausgeblieben: Bisher haben sich die sehr langen Verzögerungen vom Dezember – als die französische Regierung die Grenzen schloss, um die Ausbreitung eines mutierten Coronavirus einzudämmen – nicht wiederholt.
Dennoch warnt die britische Fracht-Reservierungsstelle (Freight Reservation Service), man beobachte „ein hohes Aufkommen an Fahrzeugen, die in den Häfen von Calais, Dunkerque und Dover abgewiesen werden und sich somit verzögern, weil bei der Abfertigung falsche Papiere vorgelegt werden“.
Auch die Kosten für den Frachttransport sind gestiegen: Die Spot-Preise für Last-Minute-Transporte über den Kanal erreichten Ende 2020 sechs Euro pro Kilometer für eine volle LKW-Ladung, verglichen mit einem bisher üblichen Durchschnitt von 1,50-3 Euro, so die Logistikplattform Transporeon.
Information in regards to Customs Channel Documentation🚛🚛🚛 pic.twitter.com/XfbFBTg5fW
— DFDSChnlFreight (@DFDSChnlFreight) January 8, 2021
Der Handelspakt, auf den sich der britische Premierminister Boris Johnson und die EU an Heiligabend geeinigt haben, garantiert einen zoll- und quotenfreien Warenhandel – doch Waren, die in die EU eingeführt werden, müssen „Zollformalitäten“ und behördliche Kontrollen durchlaufen.
Bezüglich der Frage, wie viele Fahrzeuge an den Grenzübergängen abgewiesen wurden, weil die Fahrerinnen und Fahrer die falschen Papiere hatten, herrscht Unklarheit.
Das britische Verkehrsministerium teilte diesbezüglich mit, in der ersten Woche der neuen Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich hätten mindestens 90 Prozent der Lastwagen, die den Grenzübergang Dover-Calais passieren wollten, die korrekten Papiere mitgeführt.
Die Road Haulage Association (RHA) gab gegenüber BBC News hingegen an, etwa jeder fünfte Lkw sein abgewiesen worden.
Auf britischer Seite ist inzwischen ebenfalls vorgeschrieben, dass alle Lkw, die die klassischen kurzen Kanal-Überquerungspassagen nutzen, eine digitale Zugangsgenehmigung für die Region Kent („Kent Access Permit“) erhalten müssen.
Die britische Regierung hatte bereits im Oktober eine Werbe- und Informationskampagne gestartet, um Spediteure auf die neuen Verfahren vorzubereiten. Zusätzlich werden 705 Millionen Pfund (rund 800 Millionen Euro) für neue Infrastruktur an den Häfen und Grenzübergängen in die Hand genommen, um den Verkehrsfluss möglichst zu erleichtern.
Die Regierungen in London und Paris haben außerdem beide eine Reihe von Förderprogrammen aufgelegt, um Unternehmen bei der Bewältigung der Anträge und Zulassungen sowie der neu entstehenden Kosten zu unterstützen.
Zwar hätten sich die Brexit-Unterhändler auf eine Anpassungsfrist für die wahrscheinlich mit den schwersten Einschränkungen verbundenen Regelungen für den Handel über die Irische See geeinigt, so Katy Hayward, Senior Fellow beim Think-Tank UK in a Changing Europe. Es sei aber „frappierend, wie wenig entlastende Maßnahmen“ das Handelsabkommen für den Warenverkehr von Großbritannien in Richtung Festland-Europa vorsehe.
Hayward warnt: „Viele, die versuchen, Waren aus dem Vereinigten Königreich in die EU zu bewegen, werden nicht darauf vorbereitet sein, die Regelungen zu erfüllen.“
Tatsächlich fordern gerade britische Handels- und Industrieverbände sowie Spediteure bereits Nachbesserungen an den neuen Regelungen.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]