Es kommt nach wie vor zu vielen Fake News zum Thema Coronavirus. Im Westen gehen einige Beobachter davon aus, dass russische Stellen gezielt Desinformationen streuen, um so Misstrauen in die westlichen Institutionen und Gesundheitssysteme zu befeuern. Eine Expertin weist allerdings nun darauf hin, dass vielmehr das heimische russische Publikum das Hauptziel der Kampagnen sein könnte.
„Die kremlfreundlichen Desinformationsstellen versuchen nicht, ihre Ansichten zu verbreiten, sondern das Zielpublikum zu verwirren,“ indem Falschnachrichten im Zusammenhang mit dem Coronavirus-Ausbruch verbreitet werden, teilt die East StratCom Task Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes in einem am Montag veröffentlichten Report mit. Die Stelle ist für den Kampf gegen Fake News und Desinformation in den Ländern der Östlichen Partnerschaft der Union zuständig.
„All dies zielt darauf ab, das Vertrauen in die Bemühungen der Gesundheitssysteme, der Behörden sowie der nationalen und internationalen Institutionen zu mindern,“ heißt es im Bericht weiter.
Die Annahme, dass Desinformationen und Fake News über die Pandemie das Vertrauen in die Institutionen erschüttern sollen, wurde auch in den USA bereits aufgegriffen. Russland stecke hinter „Schwärmen von gefälschten Online-Profilen“, die falsche Informationen über das Coronavirus in sozialen Medien verbreiten, sagte beispielsweise Lea Gabrielle, Koordinatorin des Global Engagement Center (GEC) des US-Außenministeriums, am 5. März vor dem US-Kongress.
„Durch die Verbreitung von Desinformationen über das Coronavirus bedrohen russische Akteure erneut die öffentliche Sicherheit, indem sie von koordinierten, globalen Reaktion auf diese Gesundheitsfrage ablenken,“ erklärte Philip Reeker, ein weiterer hochrangiger US-Beamter, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP im vergangenen Monat.
Auch die britische Regierung hat eine spezielle Einheit zur Bekämpfung von Desinformation über das Coronavirus durch feindliche Staaten oder Cyberkriminelle eingerichtet. Diese arbeitet mit Social-Media-Unternehmen zusammen, um falsche oder irreführende Behauptungen über die Krankheit zu widerlegen, berichtete die Financial Times vergangene Woche.
Russland wiederum hat Behauptungen aus den USA über Desinformationen oder Fake News im Zusammenhang mit dem Coronavirus zurückgewiesen.
Aktionen nicht gegen den Westen gerichtet?
Tatsächlich hatte Facebook offenbar Schwierigkeiten, vom US-Außenministerium konkrete Beweise für angeblich von Russland unterstützte Desinformationskampagnen zu erhalten. Das Unternehmen rief die US-Regierung auf, mehr Belege zur Untermauerung ihrer Behauptungen vorzulegen, während Twitter ebenfalls mitteilte, man habe „keine signifikanten Beweise“ für eine koordinierte Desinformationskampagne im Zusammenhang mit dem Coronavirus gefunden.
Es sei zwar grundsätzlich „möglich“, dass von Russland propagierte Coronavirus-Desinformationen gegen die USA und Europa gerichtet seien, aber es gebe „nicht wirklich viele Beweise dafür,“ kommentiert auch Natalia Krapiva, Rechtsberaterin bei Access Now, einer Organisation, die sich für digitale Rechte und frei zugängliches Internet einsetzt.
Krapiva kann sich allerdings einen gänzlich anderen Hintergrund vorstellen: „Westliches Handeln hinter all den Unglücksfällen und Misserfolgen [der russischen Regierung] zu finden, ist ein häufiges Thema, das die russische Regierung benutzt, um sich der Verantwortung zu entziehen – und um nationalistische Geister zu wecken,“ so Krapiva gegenüber EURACTIV.com.
Nach Ansicht der Expertin könnten russische Desinformationskampagnen daher „hauptsächlich auf das heimische Publikum ausgerichtet sein, um dort antiwestliche Gefühle anzusprechen“. Somit könne auch die Verantwortung auf den Westen abgewälzt werden, falls die russischen Behörden nicht in der Lage sein sollten, die Ausbreitung der Epidemie im Inland zu stoppen.
Stand 16. März ist die Zahl der COVID-19-Fälle in Russland auf 93 gestiegen. Dies ist im internationalen Vergleich eine relativ niedrige Zahl; sie bedeutet aber einen Anstieg der Fälle um 47 Prozent innerhalb von 24 Stunden, berichtet die russischen Nachrichtenagentur TASS.
„Diese Erzählung vom Westen, der es auf Russland abgesehen hat, spielt aber auch im Zusammenhang mit der bevorstehenden nationalen Abstimmung über die Verfassungsänderungen eine wichtige Rolle,“ glaubt Krapiva.
Das Gesetz zur Umsetzung einer Verfassungsreform, die es Russlands Präsident Wladimir Putin ermöglichen würden, bis 2036 an der Macht zu bleiben, ist gestern – zwei Tage nachdem es von Putin selbst unterzeichnet wurde – vom Verfassungsgericht geprüft und als zulässig eingestuft worden.
Die geplanten Verfassungsänderungen werden am 22. April landesweit zur Abstimmung gestellt.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]