Der Vorstoß türkischer Streitkräfte in Syrien hat in Russland Kritik ausgelöst und die USA vor schwierige Entscheidungen gestellt..
Das Moskauer Außenministerium erklärte am Mittwoch, die Regierung sei tief besorgt über die jüngste Eskalation an der türkisch-syrischen Grenze. Im Kampf gegen die Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) hatten die Türkei und die US-geführte Koalition zuvor erstmals eine gemeinsame Großoffensive in dem Bürgerkriegsland gestartet. Dabei waren türkische Panzer und Spezialkräfte in den Norden Syriens vorgedrungen. Die Regierung von Präsident Baschar al-Assad, der mit Russland verbündet ist, verurteilte den Angriff bereits als Verletzung der Souveränität des Landes.
Die Türkei will mit der Großoffensive auch verhindern, dass die Kurden ihre Macht an der Grenze ausbauen. Die Regierung in Ankara fürchtet, dass Erfolge der Kurden in Syrien auch Separationsbestrebungen unter Kurden in der Türkei Auftrieb gibt. Die Kurden sind aber zugleich die wichtigsten Verbündeten der USA im Kampf gegen den IS. Die Extremisten-Miliz und verschiedene Rebellengruppen kämpfen in Syrien wiederum sowohl gegeneinander als auch gegen die Truppen von Assad. Am Mittwoch drangen Aufständische nach Informationen aus Rebellenkreisen in die Islamisten-Hochburg Dscharablus vor.
Allerdings sind sich die Regierungen in Ankara und Washington nicht einig über die Ziele des Großangriffs. Während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte, die Offensive richte sich auch gegen kurdische Milizen, schloss ein US-Regierungsmitarbeiter dies aus. Die syrische Regierung verurteilte den Angriff als Verletzung der Souveränität des Landes.
Die Differenzen dürften ein Schwerpunkt der Visite von US-Vizepräsident Joe Biden sein, der wenige Stunden nach Beginn des Angriffs in Ankara landete. Dominierendes Thema dürfte auch die Auslieferung des Predigers Fethullah Gülen sein. Erdogan sieht den im US-Exil lebenden Geistlichen als eigentlichen Strippenzieher hinter dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli.
Ziel des Vorstoßes nach Syrien ist laut Militärkreisen die vom IS gehaltene grenznahe Stadt Dscharablus. Demnach rückten mindestens neun türkische Panzer unterstützt von Bodentruppen syrischer Rebellen vor. Bis zum Mittag sei die Einnahme von vier Ortschaften vor Dscharablus gelungen. Ein Reuters-Reporter beobachtete vom türkischen Grenzort Karkamis aus, wie die Panzer vorrückten. Gefechtslärm war zu hören, Rauchwolken stiegen aus den Hügeln um den Ort auf. Um 04.00 Uhr Ortszeit leitete die türkische Armee mit heftigem Granatbeschuss auf Dscharablus den Angriff ein, US-Kampfjets nahmen IS-Stellungen unter Feuer. In türkischen Militärkreisen hieß es, aus der Luft seien zwölf IS-Stellungen angegriffen worden, die Artillerie habe 70 Ziele unter Feuer genommen.
Außenminister: Kurden-Milizen müssen sich zurückziehen
„Diesen Morgen um 04.00 Uhr begann ein Einsatz in Nordsyrien gegen die Terror-Gruppen, die permanent unser Land bedrohen, wie der IS und die PYD“, sagte Erdogan am Vormittag in einer Rede. Die türkische Armee will verhindern, dass Dscharablus in die Hand der Kurden gerät und unterstützt die Rebellen der Freien Syrischen Armee. Ankara fürchtet, dass die Erfolge der Kurden-Partei PYD in Syrien Kurden in der Türkei zum Kampf für mehr Autonomie anstacheln könnte. Ankara sieht enge Verbindungen zwischen der PYD und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die seit Wochen punktuelle Angriffe auf die türkische Armee startet.
Der türkische Außenminister Mevlut Cavusolglu forderte deswegen, die kurdischen Milizen in Syrien müssten sich in die Region östlich des Flusses Euphrat zurückziehen. Andernfalls werde die Türkei „tun, was nötig ist“. Der militärische Arm der PYD, die YPG-Miliz, hat im Laufe des Bürgerkriegs weite Bereiche Nordsyriens unter ihre Kontrolle gebracht. Die YPG steht kurz vor der vollständigen Einnahme der Stadt Hasaka rund 250 Kilometer östlich von Dscharablus.
Die YPG wertete Vorstoß auf Dscharablus als eklatante Einmischung in innere Angelegenheiten Syriens und sprach von einer Kriegserklärung gegen die autonomen kurdischen Regionen in Nordsyrien. Ein YPG-Sprecher sagte, Ankara arbeite an einem Abkommen mit dem syrischen Präsidenten Baschar al Assad und Iran. Das käme einem Kurswechsel Erdogans gleich, dessen Ziel bislang der Sturz Assads war. Auch das syrische Außenministerium in Damaskus verurteilte die Offensive. Es warf der Türkei vor, den IS nur durch eine andere „Terror-Gruppe“ ersetzen zu wollen.
In dem 2011 ausgebrochenen Bürgerkrieg bekämpfen die Truppen Assads Aufständische, die teils untereinander verfeindet sind. Stärkste Fraktion der Rebellen war bislang der IS. Er bekämpfte neben den Truppen Assads auch Kurden-Milizen und vergleichsweise moderate Rebellengruppen. Assad wird von Russland und dem Iran militärisch unterstützt.
USA wollen Kurden bremsen
Die USA lehnen eine politische Zukunft Assads in Syrien ab und stützen ihren Kampf gegen den IS auf moderate Rebellengruppen. Dazu zählen vor allem die militärisch vergleichsweise erfolgreichen Kurden-Milizen, die aus Sicht Erdogans jedoch enge Bindungen zur PKK haben. Am Mittwoch erklärte ein Mitglied der US-Delegation von Vizepräsident Biden, die Bombardierungen würden IS-Stellungen gelten und nicht kurdischen Kräften. Er trug aber auch türkischen Befürchtungen vor einer dominanten Rolle der Kurden in Nordsyrien Rechnung: „Wir zügeln die Vorstöße der Kurden nach Norden“, sagte er und signalisierte, dass für derartige Vorstöße keine Luftunterstützung gegeben werde.
In Deutschland stießen Vorstöße gegen Kurden auf Kritik. „Für türkische Angriffe auf kurdische Einheiten in Syrien gibt es keine rechtliche oder politische Rechtfertigung“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen, warf der Türkei Völkerrechtsbruch vor und forderte den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen an die Türkei.
Neben dem Kurden-Konflikt erwarten den US-Vizepräsidenten auch beim Thema Auslieferung Gülens schwierige Gespräche. Erdogan kündigte am Mittwoch an, bei Biden persönlich auf die Auslieferung des Predigers zu drängen. Die USA hätten keine Ausrede mehr, Gülen nicht an die Türkei zu überstellen. Die USA verlangen für eine Auslieferung Gülens eindeutige Beweise für eine Verwicklung in den Putschversuch.