Die NATO-Führungskräfte treffen sich diese Woche in London, um das siebzigjährige Bestehen des Bündnisses zu begehen und dabei zu versuchen, die zunehmenden Risse innerhalb des Militärbündnisses zu kitten. Angesichts der Spannungen könnte die „Familienfeier“ leicht in einer Familienfehde enden.
Die britischen Sicherheitskräfte wollen nach dem Anschlag auf der London Bridge kein Risiko eingehen: In ganz London und in der Nähe des Gipfels in Watford wurden zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. So bleiben Straßen und auch Wasserwege in der nahen Umgebung des NATO-Gipfels vom heutigen Montag bis in die frühen Morgenstunden am Donnerstag für die Öffentlichkeit gesperrt.
Im Land tobt darüber hinaus seit einigen Wochen ein hochemotionaler Wahlkampf. Für den amtierenden Premierminister Boris Johnson, dem von Oppositionsparteien unter anderem seine Freundschaft zu US-Präsident Donald Trump angekreidet wird, dürfte das Treffen des Militärbündnisses eine willkommene Ablenkung von innenpolitischen Querelen sein.
Johnson hofft, sich in Watford staatsmännisch zeigen und somit ein wenig von seinem angeschlagenen internationalen Image als Ex-Außenminister wiederherstellen zu können.
Macron
Deutlich mehr Aufmerksamkeit als Johnson dürfte aber Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erhalten. Dieser hatte mit seinen Aussagen im Interview mit dem Economist vor einigen Wochen für Entrüstung innerhalb des Bündnisses gesorgt. Seine „Hirntod“-Diagnose kommt zu zahlreichen anderen Streitereien über Ausgaben und die strategische Ausrichtung der NATO hinzu.
Der französische Präsident hatte die Reaktion der NATO auf die Lage in Syrien als „hirntot“ angegriffen und gefordert, dass „neue Allianzen und neue Wege der Zusammenarbeit“ gegen den internationalen Terrorismus gefunden werden müssten. Letzteres würde seiner Ansicht nach auch einen neuen Ansatz für die Sahelzone beinhalten. In Reaktion erntete Macron dafür viel Kritik, unter anderem (und in ungewohnt deutlicher Weise) von Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Dennoch bekräftigte Macron seinen Standpunkt vergangene Woche während einer Pressekonferenz im Elysée. Neben ihm stand dabei ein sichtlich beunruhigter NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Gerade osteuropäische Verbündete dürften in London zum Ausdruck bringen, dass sie „not amused“ mit Macrons Ansichten sind. Unter anderem antwortete er auf die Frage, ob er noch an das kollektive Verteidigungsversprechen nach Artikel 5 glaubt: „Ich weiß es nicht“.
Damit stellte er eines der Grundprinzipien der NATO in Frage.
Türkei
Doch auch außerhalb Europas gärt es. So bemühte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Freitag einmal mehr, diplomatische Spannungen zu schüren.
Neue Risse im Militärbündnis waren kürzlich entstanden, als das NATO-Mitglied Türkei seine Offensive in Syrien startete und die EU-Regierungen im Gegenzug mit Sanktionen gegen Ankara drohten. Generalsekretär Stoltenberg mahnte im Oktober mit Blick auf die türkischen Militäroperationen gegen Kurden in Syrien, das Militärbündnis dürfe im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat „seine Einheit nicht verlieren“.
Am Freitag machte Präsident Erdoğan seiner Wut über die westliche Kritik an der Operation in Nordsyrien dann mit einem persönlichen Angriff auf Macron Luft: „Ich wende mich aus der Türkei an Herrn Macron, und ich werde es auch bei der NATO sagen: Sie sollten zuerst prüfen, ob Sie nicht selbst hirntot sind,“ so Erdoğan in einer Fernsehansprache. Schließlich seien „derartige Aussagen nur bei Menschen wie Ihnen üblich, die sich schon in einem Zustand des Hirntodes befinden“, fügte der türkische Führer hinzu.
Diese Kommentare führten wiederum zu einer sofortigen Reaktion des französischen Außenministeriums, das den türkischen Botschafter in Paris einberief. Man habe den Protest gegen derartige persönliche „Beleidigungen“ zum Ausdruck gebracht, so ein Berater des französischen Präsidialamtes.
Andere französische Beamte betonten ebenfalls, man erwarte von Erdoğan Aufklärung und Kooperation – und keinen „Krieg der Worte“.
Neben diesem Wortkrieg dürfte vor allem die türkische Entscheidung, das russische Flugabwehrsystem S-400 zu kaufen, Thema in London sein. Mit diesem für ein NATO-Land einmaligen Schritt brüskiert Ankara seine Bündnispartner, allen voran die USA. Einige Kommentatoren sehen den geplanten Kauf als weiteren Beweis für die türkische Abkehr vom Westen.
Doch damit nicht genug: Neben der Invasion in Syrien, dem Wortgefecht mit Frankreich und dem Kauf russischer Militärtechnologie dürfte die Weigerung der Türkei, einen NATO-Verteidigungsplan für die baltischen Staaten und Polen zu unterstützen, ebenfalls zur schlechten Stimmung beitragen.
„Polen erwartet eine unmissverständliche Erklärung zur Einheit der NATO,“ betonte der Leiter des polnischen Präsidialamtes, Krzysztof Szczerski, bereits am Sonntag.
Ausgaben
Im Gegensatz dazu könnte an einer fast schon traditionellen Front etwas Ruhe einkehren: US-Präsident Donald Trump hatte den europäischen NATO-Mitgliedern zuvor mehrfach vorgeworfen, ihren „gerechten Anteil“ für das Bündnis nicht zu zahlen. Er könnte in London erneut „Beweise“ fordern, dass die Europäer ihre Verteidigungsausgaben endlich erhöhen.
In dieser Hinsicht war es nicht verwunderlich, dass Stoltenberg bereits im Vorfeld – sozusagen „präventiv“ – neue Ausgabendaten veröffentlichte. Damit will er angesichts der anderen dringenden Tagesordnungspunkte sicherlich verhindern, dass das Thema Verteidigungsausgaben zu viel Zeit in Anspruch nimmt.
Den neuen Zahlen zufolge stiegen die Verteidigungsausgaben 2019 in Europa und Kanada real um 4,6 Prozent. Das ist das fünfte Wachstumsjahr in Folge. Stoltenberg betonte nachdrücklich: „Diese beispiellosen Fortschritte machen die NATO stärker“.
Dennoch müssten Europa und Kanada eigentlich noch mehr ausgeben: Nach aktuellem Stand werden nur 18 der 29 Mitglieder das Zwei-Prozent-Ziel der Allianz bis 2024 erreichen.
Stoltenberg bemühte sich auch in dieser Hinsicht um eine gewisse Deeskalation: Eine Erhöhung der Ausgaben entspreche dem Ziel der Allianz, und geschehe nicht, „um Präsident Trump zu gefallen“, versicherte er.
Die europäischen Verbündeten hoffen daher, dass die höheren Verteidigungsausgaben diesseits des Atlantiks (um 130 Milliarden Dollar seit 2016), ein weiterhin geplanter Rückgang des US-Anteils am NATO-Haushalt sowie mehr Bereitschaftskräfte dazu führen werden, dass Trump sich dieses Mal ans Skript hält.
US-Beamte räumten bereits im Vorfeld ein, die Europäer würden nach wie vor die Unvorhersehbarkeit des Präsidenten fürchten – die sich beispielsweise beim NATO-Gipfel im vergangenen Jahr zeigte, als Trump während eines Frühstückstreffens, das im Fernsehen übertragen wurde, eine Tirade gegen Angela Merkel startete.
Nun spekuliert man im Gipfel-Umfeld: Wird Trump angesichts des nervenaufreibenden Impeachment-Verfahrens daheim erneut die Hutschnur platzen?
Erweiterung
Während es innerhalb der EU unterschiedliche Ansichten zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien (und Albanien) gibt, ist Skopje derweil auf bestem Wege, sehr bald schon Mitglied der NATO zu sein.
Dem Land war bereits auf dem Gipfeltreffen in Bukarest im Jahr 2008 eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt worden – wenn man den Namensstreit mit Griechenland beilegen könne.
Nachdem die USA am 2. Dezember dem NATO-Beitrittsprotokoll zugestimmt haben, wartet Skopje nun nur noch darauf, dass Spanien als letztes Land seine Zustimmung gibt. Dann kann die Republik Nordmazedonien in den ersten Monaten des kommenden Jahres offiziell beitreten.
Das Land wurde jedoch bereits zur Teilnahme am Londoner Gipfel eingeladen; seine Flagge hängt neben denen der anderen NATO-Länder in den Straßen. Damit wird Nordmazedonien bereits als „de facto“-Mitglied behandelt.
#NATO Summit loading!
As London prepares to host the leaders of the alliance this week on a Summit and mark the #70thAnniversary, flags of Member States are being posted along The Mall. North #Macedonia 🇲🇰 is proudly displayed as the incoming 30th Member State. #WeAreNATO pic.twitter.com/hg8IninCr9— Andreja Stojkovski (@andrejas_mkd) December 1, 2019
Programmpunkte
Abgesehen von der Beilegung der persönlichen Fehden sind das tatsächliche Programm und die konkreten Tagesordnungspunkte eher spärlich gesetzt. Insgesamt hofft Generalsekretär Stoltenberg vor allem, dass die nationalen Führer Entscheidungen abnicken, die ohnehin (inoffiziell) beschlossene Sache sind. Dabei geht es beispielsweise um Cybersicherheit.
Allerdings dürfte die zunehmende Spaltung der NATO in Bezug auf China und die Frage, ob Huawei der Betrieb von 5G-Netzen gestatten werden sollte, sowie die zunehmende Annäherung zwischen Peking und einigen mittel- und osteuropäischen Ländern in dieser Diskussion auch zur Sprache kommen.
Darüber hinaus wird erwartet, dass auf dem Treffen eine Expertengruppe eingesetzt wird, die sich mit den Beschwerden von Macron befasst. Die NATO-Führungskräfte sollen gebeten werden, einzelne Vorschläge aus Berlin und Paris für sogenannte Expertenausschüsse zu prüfen. Diese Ausschüsse sollen erarbeiten, wie die NATO ihr „strategisches Denken“ in Zukunft verbessern kann. Stoltenberg begrüßte vergangene Woche den deutschen Plan zur Bildung einer Expertengruppe (unter seinem Vorsitz), zeigte sich gegenüber dem französischen Vorschlag jedoch eher reserviert.
Abgesehen von der Bündnispolitik soll der Gipfel vor allem ein Jubiläumstreffen zum 70. Jahrestag der NATO sein. Daher gibt es beispielsweise eine Abendveranstaltung, die von führenden Think-Tanks der Welt ausgerichtet wird, sowie ein Staatsessen mit der Queen im Buckingham Palace.
Die eigentlichen Arbeitssitzungen werden somit wohl nur um die drei Stunden dauern.
[Bearbeitet von Georgi Gotev, Zoran Radosavljevic und Tim Steins]