Die Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsminister der NATO-Staaten haben am Mittwoch erstmals über die Reformvorschläge von Generalsekretär Jens Stoltenberg beraten. Einige Mitglieder ließen bereits durchblicken, dass sie der Vorlage eher skeptisch gegenüberstehen.
Der neue Reformbericht der NATO, der von einem Expertengremium erarbeitet und im Dezember vorgestellt wurde, enthält Empfehlungen, wie das Militärbündnis neue Herausforderungen angehen sollte. Zu den Vorschlägen gehört unter anderem eine Aktualisierung des offizielle „Strategischen Konzepts“ der NATO. Darin sollten demnach vor allem die wachsenden chinesischen Militärkapazitäten sowie die „strategische Konkurrenz“ zu Russland berücksichtigt werden.
Drei Punkte stechen besonders hervor: Man wolle Blockaden einzelner Länder abbauen, „Koalitionen der Willigen“ errichten, und mehr Vermittlungskompetenzen für den Generalsekretär schaffen. Unter anderem ist auch der Vorschlag enthalten, Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen zumindest teilweise aus einem Gemeinschaftshaushalt zu finanzieren.
„Wir stärken unser Engagement für Abschreckung und Verteidigung, indem wir Anreize für die Bündnispartner schaffen, mehr Fähigkeiten beizusteuern, sowie eine gerechtere Lastenteilung sicherstellen,“ erklärte Generalsekretär Stoltenberg gestern in Brüssel.
Die Reformvorschläge, die die Regierungschefs der NATO-Staaten voraussichtlich auf einem Gipfel in Brüssel (möglicherweise im Juni) erörtern werden, dürften auch darauf abzielen, US-Präsident Joe Biden davon zu überzeugen, das Bündnis wieder nachdrücklicher zu unterstützen, nachdem es unter seinem Vorgänger Donald Trump spürbar weniger Interesse am NATO-Engagement gab.
Frankreich reserviert
Einigen Diplomaten-Quellen zufolge hat die französische Verteidigungsministerin Florence Parly Stoltenberg jedoch dafür gerügt, dass er einige seiner Reformideen für die kommenden Jahre bereits in der Öffentlichkeit diskutierte, bevor er sie bei Treffen mit den Verbündeten ansprach.
Insbesondere sei Paris skeptisch gegenüber der Idee eines neuen Finanzierungssystems, das auch militärische Einsätze sowie die Teilnahme an Missionen und Operationen berücksichtigen würde, so ein NATO-Diplomat gegenüber EURACTIV.com. Als Land, das international an militärischen Operationen vor allem außerhalb der NATO beteiligt ist, würde Frankreich daher wahrscheinlich kaum von dem neuen Finanzierungssystem profitieren.
Zudem könnte die neue Regelung dazu führen, dass sich Verbündete vergleichsweise stark an gewissen Operationen beteiligen müssen – auch wenn sie der jeweiligen Lage politisch kritischer gegenüber stehen und nur aus Gründen der politischen Kohärenz des Bündnisses zugestimmt hatten.
Erstes Treffen mit Austin
Das gestrige Treffen war auch das erste mit dem neuen US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. Dieser versprach, dass mit dem Machtwechsel im Weißen Haus die Zeiten amerikanischer Alleingänge vorbei seien.
„Der Verteidigungsminister bekräftigte die Botschaft des Präsidenten [Biden], dass die Vereinigten Staaten beabsichtigen, ihre Beziehungen zum NATO-Bündnis neu zu beleben und dass unser Bekenntnis zu Artikel 5 unumstößlich bleibt,“ teilte der Pressesprecher des Pentagon, John F. Kirby, mit. „Minister Austin bezeichnete die NATO als das Fundament dauerhafter transatlantischer Sicherheit und sagte, das Bündnis diene als Bollwerk unserer gemeinsamen Werte von Demokratie, individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.“
„Wir müssen das verlorene Vertrauen wieder aufbauen“, hatte auch Stoltenberg im Vorfeld des Treffens gefordert.
Dennoch dürfte eine Reihe von Herausforderungen bestehen bleiben, darunter die Aufstockung des Verteidigungshaushalts und Konflikte mit dem NATO-Mitglied Türkei, unter anderem über dessen Interventionen in Syrien und in Libyen, über den türkischen Streit mit Griechenland im östlichen Mittelmeer, sowie über den Einkauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 seitens Ankaras.
Klar ist auch: Trotz des deutlich geänderten Tons im Vergleich zur Trump-Administration wird die neue US-Regierung wohl ebenfalls darauf drängen, dass andere Mitglieder mehr tun, um die finanzielle und militärische Last der NATO mitzutragen.
Afghanistan und Irak
Die Sitzung am heutigen Donnerstag wird ein erster Test für die neu gefundene Harmonie zwischen den USA und den europäischen Verbündeten sein: Es soll nämlich über die NATO-Ausbildungsmission „Resolute Support“ in Afghanistan diskutiert werden.
Ein von der Trump-Administration mit den Taliban erzieltes Abkommen sieht den Abzug aller ausländischen Truppen zum 1. Mai 2021 vor – und „kein Verbündeter will länger als nötig in Afghanistan bleiben“, räumte Stoltenberg ein.
Allerdings seien die Bedingungen für einen Truppenabzug noch lange nicht erfüllt und die Friedensgespräche in Afghanistan machen keine ausreichenden Fortschritte, um einen Abzug der ausländischen Truppen zu rechtfertigen. „Wir sind noch nicht in der Lage, über den für den 30. April geplanten Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan zu sprechen“, hatte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Mittwoch deutlich gemacht.
Unabhängig davon wollen die zuständigen Ministerinnen und Minister heute außerdem über die Aufstockung der NATO-Ausbildungsmission im Irak beraten. Diese soll von 500 auf rund 5.000 Soldatinnen und Soldaten ausgeweitet werden.
[Bearbeitet von Tim Steins]