Dieser Artikel ist Teil des special reports Mit Volldampf in den Herbst? So geht’s in der EU nach der Sommerpause weiter
Nach mehr als vier Jahren risikobereiter Politik und zahlreicher Verzögerungen ist es kaum noch eine Überraschung, dass auch der letzte Akt des Brexit-Prozesses bis Ende des Jahres überaus kompliziert wird: Für einen Handelspakt für die Zeit nach dem Brexit ist die Zeit sehr knapp.
Die Übergangsperiode nach dem Brexit, während der das Vereinigte Königreich noch Teil des EU-Binnenmarkts bleibt, endet am 31. Dezember 2020. Tatsächlich haben London und Brüssel jedoch nur noch etwa zwei Monate Zeit, um zu verhindern, dass ab 2021 nach den Regelungen der Welthandelsorganisation Handel betrieben wird.
Die Unterhändler haben sich während der Sommerpause weiter getroffen; die siebte Gesprächsrunde zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über die Post-Brexit-Handelsbeziehungen wurde am vergangenen Dienstagabend (18. August) beim Abendessen zwischen EU-Chefunterhändler Michel Barnier und seinem britischen Gegenpart David Frost wieder aufgenommen.
Von britischer Seite hieß es dabei, man wolle die verbleibenden Verhandlungsrunden nutzen, um die noch bestehenden „Lücken zu schließen“.
Das EU-Verhandlungsteam zeigte sich hingegen weniger optimistisch – nachdem die jüngste Verhandlungsrunde am Freitag (21. August) abgeschlossen wurde, wiederholte Barnier einmal mehr, eine Einigung sei inzwischen „unwahrscheinlich“. Er fügte hinzu, er sei „enttäuscht, besorgt und überrascht“ über die starre Haltung Londons – unter anderem bei den Themen Fischerei und staatliche Beihilfen. „Ich verstehe einfach nicht, warum wir wertvolle Zeit verschwenden,“ so ein sichtlich unzufriedener Barnier.
Allerdings sind bereits seit dem formellen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU am 31. Januar kaum Fortschritte bei den seit langem bestehenden Meinungsverschiedenheiten erzielt worden. Die Themen staatliche Beihilfen, Fischereirechte und die letztendliche Gestaltung eines Folge-Abkommens bleiben ungelöst.
So bleibt beiden Seiten weiterhin lediglich der Verweis auf die jeweils eigene Frustration.
Das Vereinigte Königreich wird die EU-Vorschriften über staatliche Beihilfen am Ende der Übergangszeit nicht mehr befolgen, hat allerdings auch noch keine Einzelheiten darüber enthüllt, wie eine neue, nationale Regelung aussehen wird. Für eine konservative Regierung wie die von Boris Johnson ist es äußerst ungewöhnlich, dass staatliche Subventionen ein potenzielles Freihandelsabkommen zum Scheitern bringen könnten. EU-Beamte teilten bereits mit, man sei gegebenenfalls kompromissbereit und werde akzeptieren, dass die zukünftigen britischen Regelungen für Staatsbeihilfen nicht denjenigen der EU entsprechen; man brauche aber gewisse Zusagen, wie diese Regelungen denn aussehen werden.
Was die Fischerei betrifft, so wünscht sich das Vereinigte Königreich derweil weiterhin, dass das Abkommen der EU mit Norwegen als Präzedenzfall für sein eigenes Abkommen dient.
Die Zeit wird knapp
Auch die Frage der Verfahren und des Zeitplans könnte in den kommenden Wochen zu einem zunehmend größeren Problem werden. Anfang vergangener Woche betonte ein britischer Regierungssprecher noch, eine Einigung auf ein Abkommen im September sei aktuell das Ziel. Am folgenden Tag sagte ein Sprecher der EU-Kommission seinerseits, dass eine Einigung „spätestens“ im Oktober erzielt werden müsse.
Die EU drängt auf ein Abkommen, das von den Mitgliedstaaten im Europäischen Rat Mitte Oktober unterzeichnet werden könnte. Es müsste dann – bestenfalls bis Ende des Jahres – noch vom Europäischen Parlament sowie allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden.
Das Verhandlungsteam von David Frost hat indes einen überarbeiteten Text vorgelegt – mit besonderem Schwerpunkt auf Waren und Dienstleistungen. Britische Beamte erklärten, dieses Dokument solle als Zeichen an die EU verstanden werden, dass die Gespräche nun zu detaillierteren Diskussionen übergehen können und sollten.
Der neue britische Text, der bisher nicht öffentlich gemacht wurde, deckt zum ersten Mal die Bereiche Kleinunternehmen, geistiges Eigentum, Digitalpolitik und Finanzdienstleistungen sowie geografische Ursprungskennzeichnungen ab.
Die britische Seite kritisiert, das EU-Kommissionsteam habe noch keinerlei detaillierte Gespräche geführt. Man sei der Ansicht, dass eine Einigung nahezu unmöglich sein wird, wenn bis Mitte September keine Fortschritte bei diesem überarbeiteten Text erzielt werden.
Weitere britische Deals lassen auf sich warten
Gleichzeitig macht London stetige, wenn auch langsame Fortschritte bei anderen bilateralen Handelsverhandlungen – allen voran mit den USA, Japan, Australien, Neuseeland und Norwegen.
Allerdings dürften auch diese frühestens Mitte 2021 abgeschlossen sein.
Australische Politikerinnen und Politiker haben vergangene Woche Freizügigkeitsvereinbarungen mit dem Vereinigten Königreich gefordert – deren Beendigung für Bürgerinnen und Bürger aus EU-Staaten eines der wichtigsten Themen für die britische Politik und Öffentlichkeit beim Verlassen des Blocks war.
In den Verhandlungen mit der EU drängt das Vereinigte Königreich derweil weiter auf seine wirtschaftlichen Interessen. Diese Haltung erklärt auch, warum sich die Gespräche der vergangenen Wochen lange Zeit um die Forderung Londons drehten, britischen Spediteuren zu erlauben, ihre LKW durch die EU-Staaten fahren zu lassen und dabei bis zu zwei Zwischenstopps innerhalb eines EU-Landes und insgesamt drei innerhalb der EU-27 zu machen, um gegebenenfalls Waren ab- oder aufzuladen. Leerfahrten sollen unbegrenzt möglich sein.
Dies entspricht jedoch nahezu den Freizügigkeitsvorschriften für LKW aus EU-Mitgliedsstaaten: Die britische Seite will also einen gleichberechtigten Zugang beim LKW-Transport, ohne dabei aber bestimmte EU-Regeln anzuerkennen, wie etwa die Pflicht zur Nutzung moderner Fahrtenschreiber. Barnier kritisierte dieses „Rosinenpicken“ der Briten und betonte: „Das wäre eine Verzerrung des Wettbewerbs mit den EU-Fahrern.“
Die Alternative – ein jährlich zu erneuerndes Genehmigungssystem – wäre hingegen für den britischen Sektor „äußerst trostlos“, meint Elizabeth de Jong vom britischen Güterverkehrsverband.
Drohung in Richtung City of London
Es ist nicht der einzige wichtige Industriezweig, bezüglich dessen die EU mit harten Bandagen kämpft: Am vergangenen Montag (17. August) warnte die EU-Kommission die City of London, dass bis Anfang 2021 kaum noch Zeit bleibt, um fast 40 Äquivalenzabkommen abzuschließen, damit die in London ansässigen Finanzinstitute weiterhin vollen Zugang zu den EU-Finanzmärkten haben.
Vorbereitungen auf den No Deal
Sollte es nicht gelingen, die weiterhin bestehende Pattsituation zu durchbrechen, wird das lange befürchtete „No-Deal“-Szenario Wirklichkeit werden.
In Anbetracht dessen haben beide Seiten ihre „No-Deal“-Planung in den vergangenen Wochen intensiviert: Das Vereinigte Königreich kündigte Pläne an, 705 Millionen Pfund (rund 800 Millionen Euro) für neue Infrastruktur an seinen Häfen und Grenzübergängen auszugeben. So solle der Verkehrsfluss nach dem Verlassen des EU-Binnenmarktes erleichtert und möglichst reibungslos gestaltet werden.
Wie bei vielen anderen Themen ist die Kluft in der Wahrnehmung zwischen London und Brüssel groß: Einige Vertreterinnen und Vertreter der EU-Seite – darunter Handelskommissar Phil Hogan – vermuten, dass das Vereinigte Königreich auf Zeit spielt und mögliche durch die Coronavirus-Pandemie verursachte wirtschaftliche Störungen als Deckmantel für die Auswirkungen eines „No-Deal“-Szenarios benutzen will. Die britischen Unterhändler beteuern hingegen, mit bestem Willen zu arbeiten – und bringen im Gegenzug ihr Unverständnis über die ihrer Meinung nach kompromisslose Haltung der EU-Kommission zum Ausdruck.
Wer in dieser Hinsicht näher an der Wahrheit liegt, wird sich wohl in den kommenden zwei Monaten – und spätestens bis Ende des Jahres – zeigen.
[Bearbeitet von Tim Steins]