Die Europäische Kommission hat am Dienstag ihr „Erweiterungspaket“ veröffentlicht. Es ist der erneute Versuch, den ins Stocken geratenen Prozess wieder in Gang zu bringen. Das (verspätete) Paket enthält länderspezifische Berichte über die Fortschritte der sechs Westbalkanländer und der Türkei.
Der allgemeine Ton der aktuellen Kommissionsdokumente erscheint insgesamt etwas positiver als noch während des „Balkangipfels“ Anfang Mai, der eher gemischte Gefühle hinterlassen hatte – insbesondere, da das Wort „Erweiterung“ weitgehend vermieden wurde.
Die neuen Länderberichte wurden am Dienstag zusammen mit einem Investitionsplan der EU-Kommission für die Westbalkanregion vorgelegt. Die angedachten Investitionen müssten aber von konkreten Ergebnissen bei wichtigen Reformen in den einzelnen Ländern begleitet werden, betonte Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi.
„Wir haben sehr klare Regeln in der neuen Methodik. Sie werden sehen, dass wir das Ziel haben, den wirtschaftlichen Teil Hand in Hand mit den Reformen durchzuführen. Wenn wir einen Rückschlag oder einen Stillstand bei den Reformen beobachten, wird es auch unmöglich sein, die Finanzierung fortzusetzen,“ so Várhelyi vor dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments.
Der ungarische Kommissar bestätigte auch, dass er bald den Westbalkan besuchen und dabei der Politik vor Ort klar machen wolle, „was sie aufs Spiel setzen könnten, wenn sie die Bedingungen nicht erfüllen“.
Die Beitrittskandidaten
Der Europäische Rat hat inzwischen grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien gegeben, nachdem der Prozess im vergangenen Jahr wegen des Vetos Frankreichs faktisch eingefroren worden war.
In den neuen Berichten bestätigt die Kommission weitere Fortschritte bei der Umsetzung der Reformen in beiden Ländern.
Insgesamt wird für Nordmazedonien die positivste Bilanz unter den sechs Balkanländern gezogen. Die Kommission lobt die weitestgehend gute Durchführung der diesjährigen Wahlen. Mit diesen wurde der sozialdemokratische Ministerpräsident Zoran Zaev im Amt bestätigt. Zaev hatte unter anderem den innenpolitisch umstrittenen Vertrag über die Namensänderung abgeschlossen, mit dem der lang anhaltende Streit mit Griechenland beigelegt werden konnte.
Im Bericht wird allerdings gewarnt: „Korruption ist in vielen Bereichen weit verbreitet, und es muss ein proaktiveres Vorgehen aller an der Prävention und Bekämpfung von Korruption beteiligten Akteure sichergestellt werden.“
Darüber hinaus gibt es weiterhin Spannungen mit dem EU-Nachbarn Bulgarien im sogenannten „Historikerstreit“.
In Bezug auf Albanien verweist die Kommission auf Fortschritte bei den Justizreformen und der Korruptionsbekämpfung. Allerdings müsse „der politische Dialog im Land gestärkt“ und die „politische Polarisierung“ weiter gemildert werden.
Eine Voraussetzung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen war indes ein voll funktionsfähiges Verfassungsgericht. Aktuell sind nur vier der eigentlich neun Mitglieder im Gericht vertreten. Mindestens ein oder eine weitere Richterin wird benötigt, um die Beschlussfähigkeit des Gerichts zu sichern.
Várhelyi zeigte sich diesbezüglich vorsichtig optimistisch: Er sehe „Engagement für die Besetzung der fehlenden Stellen“ und werde die Angelegenheit bei einem anstehenden Besuch in Tirana ansprechen.
Deutliche Kritik gibt es hingegen an Montenegro – eigentlich der aktuelle „Spitzenreiter“ im Rennen um die EU-Mitgliedschaft, der bereits 2012 die Beitrittsverhandlungen aufnahm und in diesem Sommer nach der Eröffnung des letzten Verhandlungskapitels dem EU-Beitritt erneut deutlich nähergekommen zu sein schien.
Insbesondere moniert die Kommission die mangelnden Fortschritte Montenegros bei der Meinungsfreiheit. Zwar habe es bei den montenegrinischen Mediengesetzen gewisse Verbesserungen gegeben, diese wurden jedoch „durch Verhaftungen und Verfahren gegen Herausgeber von Onlineportalen und gegen Bürger aufgrund von Inhalten, die sie im Laufe des Jahres 2020 ins Internet gestellt oder geteilt haben, überschattet.
Darüber hinaus habe die „zunehmende Verbreitung von Desinformation“ die Gesellschaft „nach der Verabschiedung des Gesetzes über Religionsfreiheit und während des Wahlkampfs weiter gespalten.“
Kritik gibt es auch an Serbien aufgrund der Parlamentswahlen im Juni, die von der Regierungspartei SNS deutlich gewonnen und von großen Teilen der Opposition boykottiert wurden. Dazu heißt es: „Das neue serbische Parlament ist geprägt von der überwältigenden Mehrheit der Regierungskoalition und dem Fehlen einer wirksamen Opposition, was den politischen Pluralismus im Land beeinträchtigt.“
Zwar hätten theoretisch alle Parteien im Vorfeld der Stimmabgabe Wahlkampf führen können, die tatsächliche Wahlfreiheit sei aber „durch den überwältigenden Vorteil der Regierungspartei und die Unterstützung der Regierungspolitik durch die meisten großen Medien eingeschränkt“ gewesen.
Vorsichtig positiv wird die Wiederaufnahme des Serbien-Kosovo-Dialogs bewertet. Jedoch verweist die Kommission auf weiterhin bestehende Probleme und fordert konkretere Fortschritte „auf dem Weg zu einem umfassenden, rechtsverbindlichen Abkommen über die Normalisierung der Beziehungen“.
Potenzielle Kandidaten
In Bezug auf Bosnien-Herzegowina kritisiert die Kommission die politische Blockade seit Anfang dieses Jahres.
Bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wahlen sowie der Gewährleistung der Transparenz bei der Finanzierung politischer Parteien seien keinerlei Fortschritte erzielt und die EU-Standards weiterhin nicht erreicht worden.
Außerdem sei Korruption nach wie vor weit verbreitet, „und auf allen Regierungsebenen sind Anzeichen politischer Vereinnahmung zu erkennen, die sich unmittelbar auf das tägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger auswirkt.“
Auch im Länderbericht zum Kosovo wird vor allem auf die grassierende Korruption hingewiesen. Diese gebe „Anlass zu ernster Besorgnis“.
Die Kommission stellt daher fest, neben „starkem politischen Willen“ sei auch „konsequentes strafrechtliches Vorgehen gegen Korruption auf hoher Ebene erforderlich“.
Sonderfall Türkei
Die Kommission notiert, dass sich die Türkei weiter von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten entfernt sowie schwere Rückschläge in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz erlitten hat: Es gebe keine „solide und wirksame“ Gewaltenteilung. Ankara habe außerdem keinerlei Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung gemacht. Hinzu kommen Bedenken hinsichtlich des Funktionierens der türkischen Wirtschaft.
Positiv wird angemerkt, dass sich die Türkei zumindest in einigen Punkten dem EU-Acquis angenähert habe, „wenn auch mit sehr begrenztem Tempo und in lückenhafter Weise“.
Auch auf die strategische Bedeutung des südöstlichen Nachbarlandes wird eingegangen: So habe die Türkei eine „Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Herausforderungen durch die Migrationsströme entlang der östlichen Mittelmeerroute“ gespielt, allerdings auch im Februar 2020 „aktiv Grenzübertritte in die EU ermutigt“ und ein neues Abkommen gefordert, „um die Erklärung vom März 2016 zu ersetzen“.
Mit Blick auf die außen- sowie sicherheitspolitischen Konflikten der vergangenen Wochen und Monate im östlichen Mittelmeer erklärt die Kommission in Richtung Ankara, die „absolute Voraussetzung“ für einen konstruktiven Dialog sei die „Unterlassung einseitiger Maßnahmen, die den Interessen der EU zuwiderlaufen und gegen das Völkerrecht und die souveränen Rechte der EU-Mitgliedstaaten verstoßen.“
Im Bericht wird die Türkei entsprechend gedrängt, sich „unmissverständlich“ zu guten nachbarschaftlichen Beziehungen, internationalen Abkommen und zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten im Einklang mit dem Völkerrecht zu verpflichten.
Diese Aufforderung kommt nur wenige Tage nach einem wichtigen EU-Gipfel, auf dem die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten drohten, die türkischen Führung müsse mit „sofortigen“ Sanktionen rechnen, wenn die Gasförderung in zypriotischen Gewässern fortgesetzt werden sollte.
[Bearbeitet von Tim Steins]