Entwicklungsminister Müller: Hunger ist maßgebliche Fluchtursache

Entwicklungsminister Gerd Müller hat sich gegen eine Kürzung der Hilfen für Maghreb-Staaten ausgesprochen.

Entwicklungsminister Gerd Müller fordert vor Beginn der Grünen Woche eine „neue Dimension der Entwicklungszusammenarbeit“ – um weltweit den Hunger zu bekämpfen und damit die globale Flüchtlingskrise einzudämmen.

Der CSU-Politiker Gerd Müller ist seit Ende 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Zuvor war der gebürtige Bayer Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Er sprach mit EURACTIVs Kooperationspartner „Der Tagesspiegel“.

Herr Müller, haben die Besucher der Grünen Woche eine Verantwortung für den Hunger in der Welt?

Unbedingt – und deshalb ist das Entwicklungsministerium in diesem Jahr zum ersten Mal mit einer Sonderschau auf der Grünen Woche präsent. Verbraucher sollten sich bewusst machen, was sie essen. Viele der Produkte, die wir konsumieren, kommen aus Entwicklungsländern. Denken Sie etwa an Bananen, Kakao, Kaffee, Reis oder Gewürze. Wer als Verbraucher aufpasst, kann die Welt verändern – zum Besseren.

Wie kann ich das erkennen?

Wenn Sie zum Beispiel ein Kilo Bananen für weniger als einen 1,50 Euro angeboten bekommen, sollten Sie sich fragen, ob dieses Obst wirklich fair angebaut worden sein kann. Auf Bananenplantagen arbeiten Hunderttausende von Kindern für Billigstlöhne und auf Kosten ihrer Gesundheit, manche werden fast wie Sklaven gehalten. Deshalb wollen wir den Anteil nachhaltiger Bananen in Deutschland erhöhen. Diesen Ansatz verfolgen wir bereits bei Kakao, Kaffee und Baumwolle zusammen mit der Wirtschaft und den Verbrauchern und wollen ihn auch auf andere Produkte ausweiten. Wir müssen uns mehr für die Menschen zu interessieren, die am Anfang der Produktkette unter schwierigsten Bedingungen für uns arbeiten. Fair gehandelte Produkte erhalten Natur und Umwelt und schaffen Einkommen und damit Zukunft für die Menschen in den Entwicklungsländern.

Wir Deutschen sind die Discount-Weltmeister mit den niedrigsten Lebensmittelpreisen, unser eigentliches Grundgesetz heißt „Geiz ist geil“. Wie soll Ihr Ansatz da funktionieren?

Es muss „Klick“ machen in unserem Kopf. Am Anfang jeder Erzeugerkette stehen Menschen. Vor 50 Jahren haben die Deutschen noch 40 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgegeben, heute sind es nur noch acht Prozent. Das heißt: Wir verfügen über den finanziellen Spielraum, uns beim Nahrungskauf fair zu verhalten. Wir können die teils unmenschlichen Produktionsverhältnisse in Entwicklungsländern verändern, wenn wir bewusst einkaufen. Es ist doch unerträglich, dass von den weltweit 800 Millionen Menschen, die hungern oder unter Mangelernährung leiden, 90 Prozent auf dem Land leben, also dort, wo die Nahrungsmittel produziert werden. Sie können aber von ihrer Arbeit und ihren Produkten nicht leben.

Was tut Ihr Ministerium gegen den Hunger auf der Welt?

Der Kampf gegen den Hunger ist ein Schwerpunkt unserer Arbeit. Jeden Tag erhöht sich die Weltbevölkerung um 230.000 Menschen. Sie alle wollen essen und trinken. Das ist die Überlebensfrage der Menschheit. Wir bauen 13 Innovationszentren in Afrika und Indien auf, die vor allem das Ziel haben, die Produktivität zu steigern, Wissen zu transferieren und in Ausbildung zu investieren. Das jüngste Zentrum habe ich Anfang des Jahres in Benin in Westafrika eröffnet. In dem Land liegt der Durchschnittsertrag bei Reis bei 1,5 Tonnen pro Hektar im Jahr. Den Ertrag können wir mit regionalen Anbaumethoden, heimischen Sorten und einfachen Vorschlägen in drei bis fünf Jahren auf fünf Tonnen steigern. Das Beispiel zeigt: Eine Welt ohne Hunger ist möglich. Wenn wir den Bäuerinnen und Bauern in Entwicklungsländern unser Wissen vorenthalten, ist das Mord. Dieser Gedanke von Mahatma Ghandi stimmt erst recht im Zeitalter der weltweiten digitalen Vernetzung.

Kann der Kampf gegen den Hunger dazu beitragen, dass weniger Menschen nach Europa fliehen?

Das ist ein ganz entscheidender Hebel. Wer nichts zu essen hat, ist bereit, radikal zu handeln und notfalls zu töten, um nicht zu sterben. Hunger ist Auslöser vieler politischer Krisen – das war übrigens auch in Syrien der Fall. Das Land wurde zwischen 2006 und 2011 von einer der größten Hitze- und Dürreperioden der vergangenen zweihundert Jahre heimgesucht. 80 Prozent des Viehbestandes in Syrien verendete, Menschen hungerten und wurden anfällig für radikale Versprechen. Wer um sein Überleben kämpfen muss, der hält sich nicht mehr an bewährte Regeln. Das sehen wir nicht nur in Syrien, sondern auch in anderen Ländern.

Wo zum Beispiel?

Hunger ist eine der Hauptursachen für Flucht. Allein in Afrika fliehen derzeit 18 bis 20 Millionen Menschen vor den Folgen des Klimawandels. Die Erderwärmung macht es in Subsahara-Afrika an vielen Orten unmöglich, die Böden noch zu bewirtschaften. Die Potsdamer Klimaforscher warnen: Wenn wir die Erderwärmung nicht auf zwei Grad begrenzen, werden aus den 20 Millionen Klimaflüchtlingen bald 100 oder 200 Millionen.

Das heißt?

Wir brauchen eine völlig neue Dimension der Entwicklungszusammenarbeit. Wer glaubt, dass sich Deutschland oder Europa abschotten und Länder auf anderen Kontinenten durch unfaire Handelsbedingungen und eine ungerechte Ressourcenverteilung sogar noch ausbeuten können, dem sage ich: Für diesen Irrtum werden wir einen hohen Preis zahlen müssen. Noch einmal eine Million Flüchtlinge im Jahr 2016 können wir in Deutschland aber nicht integrieren.

Wo steht Europa bei dieser Aufgabe momentan?

Es ist beschämend, dass wir als Europäer die Bekämpfung der Fluchtursachen nicht in dem Maße angehen, wie es notwendig wäre. Das betrifft vor allem unsere direkte Nachbarschaft, für die wir auch Verantwortung tragen. Wir brauchen dringend ein europäisches Partnerschaftsprogramm für die Mittelmeerregion. Allein in Ägypten leben fünf Millionen Straßenkinder. Die Hälfte der jungen Ägypter hat keine Arbeit und damit keine Perspektive. In anderen nordafrikanischen Ländern ist es ähnlich, deshalb haben wir nicht nur in Ägypten, sondern auch in Marokko Ausbildungsinitiativen gestartet.

Was tut Deutschland, um die Lage in den Flüchtlingslagern rund um Syrien zu verbessern?

Wir haben die Mittel für diese Krisenregion in den vergangenen beiden Jahren verdreifacht. Doch wir können das nicht allein schaffen. Wer über Jahre im Dreck leben muss und nicht einmal genügend Lebensmittel erhält, weil die Rationen gekürzt werden, der hat keinen Grund, zu bleiben. Ich fordere seit langem, dass die EU-Staaten zehn Milliarden Euro für eine gemeinsame Initiative aufbringen. Damit könnten wir die gesamte Region stabilisieren und viele davon abhalten, nach Europa zu fliehen. Allein die Bundesländer in Deutschland benötigen nun 17 Milliarden Euro für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Das ist eine absurde Rechnung. Jeder Euro, den wir investieren, damit Menschen in ihrer Heimat bleiben können, wirkt dort doppelt und dreifach und ist auch eine Investition in unsere Zukunft.

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